Der Obersturmführer                     und  das

Judenmädchen    

 

 Liebe in Zeiten des Wahnsinns

   

Bernd Deppe hatte gerade seine kleine Segelyacht in Kappeln vor der Kippbrücke an der Pier fest gemacht und wartete auf die Durchfahrt. Der Mast war abgeknickt, Rick und Reling gerissen und verbogen. Unvermittelt fanden sich auch gleich Schaulustige ein, meist Urlauber, die verzückt Schaden bestaunten und: ‚Na Seemann, wieder Schiffe versenken gespielt‘? Bernd fand das gar nicht lustig.

Doch dann sprach ihn einer an: ‚Christian Bruninghausen‘, stellte der sich vor und fragte verständig nach der Ursache der Havarie. Bernd berichtete kurz, dass er von Hamburg auf dem Weg nach Dänemark sei. Doch jetzt habe ihn ein großes Motorboot in der Holtenauer Schleuse gerammt. - Im kleinen Belt wollte er sich mit einigen Segelkameraden in einer Bucht treffen und ein Fass aufmachen, bisschen grillen und Fisch räuchern - na ja, natürlich auch ein paar Drinks nehmen. Das machten sie jedes Jahr einmal. Er sei gerade Rentner geworden und freute sich jetzt auf eine Zeit ohne Termindruck. Ja - aber das würde nun wohl nichts mehr werden.

Christian gab Bernd für die Reparatur eine Werft Empfehlung und würde ihn dorthin auch gern begleiten, wenn er möchte, da er den Meister dort gut kenne. Bernd fiel ein Stein vom Herzen, weil da nun jemand war, der ihm in seiner misslichen Situation helfen wollte.

Gemeinsam überführten die beiden nun das Boot in die kleine Werft. Doch der Meister dort musste Bernd enttäuschen, denn es sei ja Urlauzeit und so schnell sei die Reparatur auch nicht zu machen. - Und nun?

Inzwischen war es Abend geworden. Mit einem kleinen Imbiss im Gasthof wollte sich Bernd aber bei Christian für seine freundliche Unterstützung bedanken. Allerdings war die Hilfsbereitschaft nicht ganz uneigennützig gewesen, denn er suchte für seinen Törn noch einen zweiten Mann.

Beim Essen erzählte Clemens so beiläufig, dass er sich ein neues Schiff angeschafft habe und auch noch raus wollte, aber allein möchte er nicht so gern. Ein Bekannter habe aus zeitlichen Gründen kurzfristig abgesagt. Bernd sah Christian hoffnungsvoll an: „So lange mein Boot repariert wird, könnte ich ja auch mit kommen.“ Christian freute sich über den Vorschlag. „Ja gut, das wäre prima. Daran habe ich auch schon gedacht, aber ich wollte sie nun nicht von der Reparatur abhalten, falls sie die Arbeiten begleiten wollten, obwohl es doch ein Haftpflicht Schaden ist.“

Mit einem Handschlag besiegelten nun die beiden Männer die Heuer und das ‚Du‘. Sie klönten noch eine Weile, um sich besser kennen zu lernen und verabredeten sich für den nächsten Tag auf Christians Yacht.

„Ich wartete schon, als ich Christian strahlend mit einem jugendlich flotten, aber schon gereiften, Mädchen Hand in Hand kommen sah. Ach du meine Güte, dachte ich verdutzt, so ist das also, sie hat das Geld, sich einen flotten jungen Kerl zu leisten, und ich sollte nun für das Turtelpärchen den Kutscher und Lakaien spielen, während die sich an Deck in der Sonne räkelten?!“

Bernd war baff. Seine Mimik verriet seine Gedanken. Doch Clemens kam ihm zuvor: „Das ist mein neuer Freund Bernd – und Bernd darf ich dir meine Mutter vorstellen? Sie wird mit von der Partie sein. Du hast doch nichts dagegen, wenn eine Frau an Bord kommt?“ Bernds Gesicht hellte sich gleich wieder auf.

„ Mutter?“

Frau von Bruninghausen unterbrach ihn gleich wieder und lachte:

„Ich bin auch schon Oma und habe zwei Enkeltöchter“, sagte sie selbstbewusst, reichte Bernd zur Begrüßung die Hand und meinte grade raus:

„Ich genieße es, wenn viele glauben, dass ich mir einen knackigen, jungen Lover leiste, wenn ich so vertraut mit meinem Sohn unterwegs bin. Mein Name ist Anne. Christian sagte, das ‚Du‘ sei in einer Segelcrew üblich. Ist das OK Bernd?“

„Ja das ist schon OK, auch ohne Kuss“, griente er, um ein wenig Oberwasser zu bekommen und nicht ihrem Charme zu verfallen.

„Christian sagte mir, dass er einen netten Herrn kennen gelernt habe, der uns begleiten würde.“

„Und? -  Ist er nett?“

Anne lenkte ab und lachte:

„Ich werde es herausfinden - Kaffee?“

 Zustimmung .

Gemeinsam mit Christian kramte Anne in der Pantry und machte Kaffee. Bernd bestaunte die Details der Ausstattung unter Deck und nahm auf dem Sofa im Salon Platz. Nebenbei wollte Anne nun neugierig wissen:

„Bist du immer so allein unterwegs?“

„Wieso?“

„Hat deine Frau hat keine Lust zum Segeln?“

Bernd lachte: „So fragt man Leute aus. – Ja, früher war sie immer mit, aber jetzt bin ich seit einigen Jahren Wittwer“.

„Das tut mir Leid“.

Anschließend berichtete Bernd kurz von seiner Havarie, auch dass er jetzt Ruheständler sei und sein Sohn ihre kleine Hafenspedition ganz übernommen habe.

 „Ja“, meinte Anne lächelnd, „Christian und mir geht es so schlecht, dass wir noch arbeiten müssen.“

Bernd überlegte, wenn die sich ein so teures Schiff leisten könnten, müssten sie ja tüchtig arbeiten.

„Was macht ihr denn, ich meine so beruflich?“

„Wir sind beide Geschäftsführer im Maschinenbau“.

Dann erzählte Anne, dass es Christians Vater einst bei Kriegsende hier her verschlagen hatte. Später sei er dann beim Segeln versschollen und auf See geblieben. Deshalb brächten sie ihm jedes Jahr zum Geburtstag Blumen und übergäben sie der See. Anfangs hätte ein Fischer sie jedes Mal mit dem Kutter raus gefahren, aber jetzt hätte Christian sich ja diesen Segler angeschafft. Allerdings fühle er sich noch nicht so firm, dass sie beide allein fahren sollten.

Das Kaffeekränzchen mit ein paar Keksen entwickelte sich zu einer amüsanten Gesprächsrunde, wozu auch Bernds Seemannslatein beitrug. Nach einem Gläschen Sherry verabredeten sie sich zum Abendessen im Gasthof.

Christians nagelneue Segelyacht war ein Traum. Abgesehen von der aktuellen technischen und nautischen Ausstattung verzückte Bernd auch der anspruchsvoll gestaltete Innenbereich, weil derartig exklusive Schiffe nur wenig hier im Norden bei den Freizeitseglern zu finden waren, denn Eigner so hochpreisiger Yachten bevorzugen meist die wärmeren Gefilde.

Bernd holte aus seinem Schiffchen noch seinen Seesack und ein paar nützliche Sachen wie Kleidung, Proviant und ein paar Flaschen.

„In Dänemark kann man mit einem ’kleinen Snaps‘ stets Freundschaftaft schließen und beim Hafenmeister kann es sich auch günstig auf die Liegegebühr auswirken“, hatte Bernd schon zum Besten gegeben. Er quartierte sich in einer der vier Doppelkabinen mit Dusche ein.

Das Abendessen im Gasthof verlief auch wieder sehr vergnüglich, wobei Anne und Bernd den Ton angaben, als weitere Gläschen der hauseigenen Kreation ‚Eiderfeuer‘ die Zungen lockerten. Als letzte Gäste machten sie sich auf den Rückweg. Es schien so, als hätten sich da die drei Richtigen gefunden.

Gemeinsam mit Christian befasste Bernd sich am nächsten Morgen dann mit den Gegebenheiten an Bord und checkte Wasser, Treibstoff, Proviant und Maschine. Anne hatte sich einen großen Strauß roter Rosen besorgt.

Das Wetter war durchwachsen und es wehte eine leichte Brise aus West, als sie am späten Vormittag aufbrachen. Christian wollte gerade die Leinen los werfen, da lachte Bernd:

„Nein, nein Christian, das sollte nun mein Job sein. Du bist hier der Skipper und ich bin Lotse bei dir an Bord. So bekommst du am besten das Gefühl fürs Schiff.“

Christian hatte zwar die Befähigung zum Führen seiner Yacht und war auch auf der Überführung dabei gewesen und schon mit dem Schiff vertraut gemacht worden, aber ihm fehlte noch die Praxis. Auf dem Eder See segelte er eine Jolle, die er zur Entspannung bei schönem Wetter nutzte, während Bernd als erfahrener Schipper schon mit vielen Meilen auf dem Wasser die Tücken und Launen der See erlebt und respektvoll im Laufe der Jahre mit den Meeren Freundschaft geschlossen hatte.

Nachdem sie die offene See erreicht hatten, holte Bernd den Sherry mit vier Gläsern hervor und schenkte ein. „Prost“ und „Prost Neptun, auf eine gute Fahrt“, wobei er das vierte Glas über Bord schüttete.

Dann setzten sie die Segel. Bernd redete nicht viel und ließ Christian in aller Ruhe machen. Er merkte bald, dass Christian doch ein gutes Händchen für das Schiff hatte. Aber Bernd wusste auch, wenn er am Anfang das Ruder in die Hand genommen hätte, wäre er womöglich während der ganzen Tour der Steuermann. Allerdings vermittelte er neben-bei kleine Tipps wie Segelstellung, Wege-recht und wies auf Gepflogenheiten und vor allem stets auf die Sicherheitsregeln hin.

Als sie nun weit genug draußen waren und rundum kein Land mehr in Sicht war, stoppten sie auf, und Anne übergab dem Meer bei einigen stillen Minuten den Geburtstags-gruß.

Über Funk hatte Bernd mittlerweile Kontakt zu den Segelkameraden und schilderte seine Situation, allerdings könne er nicht in die flache Bucht zu ihnen kommen, weil das Schiff zu viel Tiefgang habe.

Es war schönstes Segelwetter und die Stimmung an Bord bestens. Christian hatte mit seinem neuen Schiff schnell Freundschaft geschlossen, weil es ihm so gut in der Hand lag, wie er stolz sagte.

Erwartungsgemäß vereinbarten die drei noch ein paar Tage ihre Tour bei dem schönen Wetter fort zu setzen. Da Bernd ja auch ‚ortskundig‘ war, kannte er die romantischen Orte und Häfen mit guten Restaurants. Wenn sie ankerten fuhren sie mit dem Beiboot an Land oder Anne zauberte an Bord eine lukullische Kleinigkeit. Dass Bernd noch einige Flaschen zusätzlich gebunkert hatte, kam den abendlichen Runden an Bord sehr zugute und wurde von der Besatzung entsprechend gewürdigt.

Nach zwei harmonischen Wochen auf dem Wasser wollte Christian wieder zurück in die Firma. Er hatte mit Bernd vereinbart, dass er das Schiff nutzen könne, wenn er sich in auch darum kümmern würde. So konnte Bernd sein eigenes Boot in Hamburg lassen und hier auf der Ostsee, nach Terminabstimmung, auch segeln.

Christian war es nicht verborgen geblieben, dass Amor mittlerweile das Schiff geentert hatte und unentwegt Signale sendete, denn Bernd war ja auch ein attraktiver Charmeur. Und weil alles so schön war, wollte Anne nun anschließend noch ein paar Tage bleiben und mit ihm segeln, da er sich ja auch sonst nur mit der Reparatur seines Bootes befassen müsste. Christian schien es gar nichts auszumachen, dass seine Mutter nun mit Bernd allein auf die Reise gehen würde.

Obwohl es nun eine trauliche Lustreise werden könnte, wollte Bernd aus Prinzip aber standhaft bleiben und nicht für einen schwachen Moment die Freundschaft aufs Spiel setzen und Anne zu einem Seitensprung animieren.

Als Christian am nächsten Tag mit der Firmen Limousine abgeholt wurde, sagte er dem Chauffeur, dass die Chefin noch hier bliebe, da ein Geschäftsfreund mit seiner Tochter zum Segeln käme. Bernd wunderte sich und an Anne gewandt:

„Dann werden wir zu viert unterwegs sein?“

“Das hat er doch nur gesagt, um mich nicht zu kompromittieren, es wird doch gern viel geredet“.

„Macht euch man beide noch ein paar schöne Tage“, hatte Christian zum Abschied gesagt.

Anne und Bernd kauften für unterwegs noch ein paar Kleinigkeiten ein, wobei Bernd die ganze Zeit daran denken musste, wie Mutter und Sohn überhaupt kein Problem damit hatten, dass sie nun mit ihm allein verreisen würde. Als sie ihre Besorgungen erledigt hatten, stachen sie auch gleich wieder in See.

Obwohl Bernd das Schiff allein handelte, wollte Anne nicht tatenlos sein. Er überließ ihr das Ruder und sie genoss es, wie das große Schiff ihren Befehlen folgte.

Wie schon in den letzten Tagen spaßten die beiden weiter miteinander, wobei Bernd ihre selbstsichere Art nicht so recht deuten konnte. Anne gefiel das, denn sie hatte auf dem letzten Törn schon Feuer gefangen – und Bern auch. Was sollte das nun werden – Freundschaft oder mehr?

Gleich am ersten Tag steuerten sie eine beschauliche Ankerbucht an. Mit einem Longdrink setzten sie sich in die Plicht auf die weichen Kissen und genossen artig den Sonnenuntergang und die Ruhe.

„Ist doch immer wieder ein Erlebnis, wenn die Sonne so im Meer versinkt.“

„Herrlich die Farben, wie die sich im Wasser spiegeln.“

„Woran denkst du"?

Fragte Bernd nach einer Weile. Anne lachte.

„Warum lachst du?“ 

„Das hat mit dir nichts zu tun. Christians Vater hat es auch immer zu mir gesagt. Ich erzähle es dir später mal".

Zu gern hätte Bernd ihre Gedanken erkundet, doch wortkarg ging es wohl noch so eine halbe Stunde weiter. Dann meinte Anne:

„Es wird langsam doch frisch. Wollen wir nicht nach unten in den Salon gehen? Was hältst du von einem kleinen Snack?“

„ Fein - danke, gern.“

 

Unter der Leitung von Anne, mit einem Gläschen Sekt nebenher, kreierten sie nun gemeinsam in der Pantry eine leckere ‚Kleinigkeit‘, wobei Anne die Highlights ihres Könnens zu beweisen versuchte. Dann machten sie es sich mit ihrem Erzeugnis bei Kerzenlicht und einer Flasche Rotwein im Salon gemütlich. Bernd hatte die Heizung noch ein wenig eingeschaltet und eine wohlige Atmosphäre geschaffen, wobei die leisen Klänge aus der anspruchsvollen Anlage eine Konzerthaus Stimmung vermittelte. Obwohl Bernd im Stillen eine schöne Portion Sauerfleisch mit deftigen Bratkartoffeln lieber gewesen wäre, bemühte er sich etwas holprig, Anne ein Kompliment zu machen und lobte ihre Küchenkünste. Anne dankte mit einem Küsschen auf die Wange.

 

ANNE

Sie hatte ihre Beine auf dem Ecksofa lässig hoch gelegt. Auch Amor setzte sich zu ihnen und übernahm behutsam die Regie. Mit warmen Worten elektrisierte Anne die Stimmung, plauderte über Freundschaft, Vorlieben und Wünsche und gab gefühlvoll Interna aus ihrem bisherigen Dasein zum Besten. Weinselig wurde Bernd nicht so richtig bewusst, wie Anne ihn vor sich her trieb und fragte schließlich verwegen:

„Bist du eine unmoralische Frau?“

„Was meinst du, wieso unmoralisch?“ Anne lachte.

„Du bist eine verheiratete Frau, trägst deinen Ehering und flirtest ernsthaft mit mir.“

„Aber warum auch nicht, meinst du denn, ein Ehering ist ein Keuschheitsring? Ich bin doch keine Nonne.“

Bernd stutze, konnte die Frau so verwegen sein? Wollte sie ihn in seiner Phantasie auf die Palme bringen, um ihm zum Schluss einen Korb zu geben? Doch er wollte standhaft bleiben und ihre offene Art nicht gleich für ein plumpes ‚Start Up‘ ausnutzen und dann wie ein Stier in ein rotes Tuch rennen zum Vergnügen für eine Anwesende. Er bemühte sich um coole Neutralität.

Anne fand sein Verhalten prickelnd und weiter:

„Derartige Flirts sind in meinem Ehevertrag geregelt. Deshalb kann ich nicht unmoralisch sein. Moral, was ist das überhaupt? Was die Kirchenmänner erzählen? Aber halten die sich in ihrer Scheinheiligkeit daran? Der Homosapien ist nun mal nicht für die Monogamie gemacht. Das ist wissenschaftlich bewiesen. Aber Treue ist etwas anderes.“

Bernd überlegte, was will die Deern nun damit sagen? Pause - und schon mit schwerer Zunge erklärte Anne, nun ihre Situation:

„Mein Ehemann ist Claus, der Bruder von Christians‘ Vater, Clemens, der hier auf See geblieben und verschollen ist. Claus sieht gut aus und ist sehr charmant, aber er ist auch sehr schwul. Schon in der NS Zeit gab es Probleme und er wäre fast in ein Arbeitslager gesteckt worden, wenn nicht Parteifreunde es hätten verhindern können. Formell hatte man ihm damals dann eine Frau gegen Honorar als Verlobte zum Präsentieren an die Seite gestellt. Und nach dem Krieg gab es ja auch noch den Paragrafen 175 und dasselbe Problem, aber die Menschen hatten damals andere Sorgen als sich um Schwule zu kümmern.

Also, als Christians Vater, Clemens, nach dem Krieg nicht zurück kam und ich den kleinen Cristian einst mitbrachte, haben Schwiegereltern sich deshalb auch so gefreut, weil da nun wieder ein Nachfolger war. Für die Leute wurde ich dann eben die Affäre von Claus, die er während seiner Besuche in Berlin mit dem Kind hat sitzen lassen. Das war die offizielle Lösung für unsere ‚Einbürgerung‘ und seine Veranlagung. Da meine Papiere ja alle angeblich in Berlin verbrannt waren, gab ich für neue meinen richtigen Namen ‚Anne Blume‘ an. Christian wurde ein Berliner, eine Hausgeburt, also ohne Klinik.

Weil Clemens ja schon für tot erklärt worden war, haben sie mich zur offiziellen Ehe mit Claus überredet.

Es wurde ein umfangreicher Vertrag mit x Klauseln verfasst, auch um das Unternehmen später nicht mit Streitereien zu belasten. In der Konsequenz bedeutete es, dass das gesamte Betriebsvermögen an Claus, Christian und mich übertragen wurde. Die Schwiegereltern hatten je eine Stimme, Claus eine und ich zwei, so lange Christian noch minderjährig war. Außerdem wurde mir vertraglich ein diskretes Intimleben zugesichert. Aber du darfst nicht vergessen, dass das Unternehmen zu der Zeit wirtschaftlich am Boden lag. Damit war die Transaktion nicht so spektakulär und kostspielig. Heute ist alles wieder größer als zuvor.“

Als der Rauch der Kapitulation sich ein wenig verzogen hatte, gab es dann auch eine bescheidene standesamtliche Hochzeitsfeier.

Anne lachte verschmitzt:

„In der Konsequenz bin ich zu einer vermögenden ‚wirtschaftlich verheirateten‘ Frau geworden. Wie Geschwister wohnen Claus und ich mit den Schwiegereltern in der großen Villa unter einem Dach in getrennten Wohnungen. Wir verstehen uns alle ausgezeichnet und essen täglich mit der ganzen Familie zusammen. Claus und ich sind ein attraktives Paar und haben auch Spaß, wenn wir unterwegs sind. Wir erzählen uns alles. Da unsere Ehe nur eine Show ist, hatten wir auch noch nie einen Ehekrach. Bei derartigen Eheverträgen ohne gegenseitigen Besitzanspruch muss man auch nicht warten bis der Tod scheidet und kann schon vorher Spaß am Leben haben.“

Bernd überlegte und:

„Denn hatte dein Clemens dich einfach mit Christian in Berlin im Stich gelassen und sich nach Schleswig-Holstein abgesetzt?“

„Ach was Bernd, das war doch ganz anders. Wir haben uns in Polen kennen gelernt und lebten auch dort, als Christian geboren wurde. So, nun ist gut. Morgen erzähle ich dir meine bizarre Geschichte. Jetzt will ich unsere Stimmung nicht verderben.“

„Das kannst du jetzt auch gar nicht mehr, Eros ist nämlich schon eingeschlafen.“

„Dann wecken wir ihn eben, alter Mann!“

Obwohl sich beide bemühten, einen klaren Kopf zu behalten, verfehlte der Wein seine Wirkung nicht. Es war ja so gemütlich im Salon. Anne legte ihren Kopf auf Bernds Schulter und gab ihm einen Kuss auf die Wange:

„Zu mir oder zu dir?“

Nachdem sie das geklärt hatten, wurde es eine schöne Nacht. Im Morgengrauen weckte ein wenig unsanft Möwengeschrei die beiden aus ihren süßen Träumen. Der Wind war eingeschlafen und das Wasser spiegelglatt. Es schien ein sonniger Tag zu werden. Nach einer erfrischenden Runde im Meer um das Schiff herum und einem opulenten Frühstück in der Plicht beschlossen Anne und Bernd noch einen Tag in der Bucht zu bleiben, da der Wind ohnehin zum Segeln nicht reichte.

Anne überlegte kurz:

„Sag mal Bernd, was habe ich dir eigentlich gestern in meiner Weinseligkeit alles erzählt?“

„Es war nichts Verwerfliches. Du kannst sehr unterhaltsam plaudern. Ich fand deine Ansichten und dein Ehelebeben schon recht interessant. Du wolltest aber noch mehr erzählen.“

Anne begann erneut nach dem Frühstück:

„Gut, denn mal von vorn: Ich bin in Berlin geboren. Mein Vater war Goldschmied und wir hatten ein kleines Juweliergeschäft. Weil wir Juden waren, wurde ich gemobbt und musste schließlich die Schule schon früh verlassen. Meine Eltern schickten mich zu Verwandten nach Polen in Sicherheit. Aber als der Krieg uns einholte, wurden auch da die Juden abgeholt und kamen ins Lager. Man munkelte, dass dort Menschen erschossen würden. Aber wir hatten ja nichts Unrechtes getan und glaubten, schlimmstenfalls in ein Arbeitslager zu kommen oder umgesiedelt zu werden. Doch das war ein Irrtum. Nur arbeitsfähige Personen hatten zunächst eine Chance und mussten hauptsächlich im Steinbruch arbeiten. Die anderen wurden erschossen, denn die großen Vernichtungslager waren damals ja noch nicht fertig. Aber so fing alles an.“

Anne stockte und überlegte. Bernd nahm ihre Hand und zog sie an sich.

„Wie gesagt, als wir als wir abgeholt wurden wussten wir ja nicht, was mit uns passiert. Erst als wir ins Lager kamen sickerte durch, dass dort tatsächlich Menschen erschossen würden weil sie Juden waren. Wir mussten alles abgeben Wertsachen, Taschen und Koffer. Christians Vater, Clemens, hatte das Kommando in der Asservatenkammer. Er hörte, dass ich Deutsch sprach und verpflichtete mich für die Arbeit dort. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass er mich mochte, verhielt sich anfangs der Herr Obersturmführer mir gegenüber bewusst unhöflich und wenn jemand dabei war, besonders schroff. Aber trotz des absoluten Gespräch Verbots für die Inhaftierten, stellte er mir bald unauffällig private Fragen und auch wie gut ich mich in Polen auskannte. Ich erzählte dann, dass ich auch bei Bekannten meines Onkels auf einem kleinen Bauernhof den Sommer verbracht und auf dem Hof mit geholfen hätte. Ich hoffte so, in der Landwirtschaft arbeiteten zu können, falls ich zur Zwangsarbeit verpflichtet würde. Er wurde zutraulicher und wollte Genaueres über den Hof wissen.

Später erzählte er mir, dass da seine Fluchtgedanken konkret geworden waren, weil er dann einen Anlaufpunkt gehabt und gehofft hatte, für eine kurze Zeit dort unter kommen zu können. Er wollte sich dann weiter nach Schweden durchschlagen. Das wäre aber sehr naiv gewesen, denn der anfänglich erfolgreiche Russland Feldzug durchkreuzte seine Pläne. Zwar war er da mit seinem Latein am Ende, aber doch immer wieder optimistisch und erst einmal weg von dort aus dem Lager.

Ein paar Tage danach sollte ich noch unbemerkt warme Kleidung für mich und ihn zur Seite legen. Nichts Schickes aber warm sollte es sein. Ich schloss daraus, dass er türmen wollte, und ich dann wohl auch mit von der Partie sein würde. Schon länger hatte ich beobachtet, wie er offensichtlich von dem abgelieferten Geld und den Wertsachen etliches abgezweigte. Vieles davon hatte ich aus dem Futter der abgelieferten Kleidung heraus trennen müssen. Ich ahnte schon bald etwas, aber wir sprachen nicht darüber. Er fragte nur einmal beiläufig, ob ich spontan sei.

Vierzehn Tage weiter war es so weit. Clemens wusste, dass an dem Tag viel getrunken würde. Draußen war es kalt, ein ziemlicher Sturm. Er befahl mir, ihm zu folgen und in einen ‚Kübelwagen‘ zu steigen und mich zu verstecken. Es war dunkel, später Nachmittag als wir das Lager verließen. Starkes Schneetreiben hatte eingesetzt. Beide schlotterten wir vor Kälte und Angst.

Ein letztes Mal salutierte eine Wache für den Herrn Obersturmführer als er einen Fahr-befehl oder etwas Ähnliches hinhielt. Das war der gefährlichste Zeitpunkt zwischen Leben und Tod. Nun gab es auch kein Zurück mehr für uns. Aber welche Alternative hätten wir denn eigentlich dort noch gehabt?

Clemens hatte alles gut durchdacht und vorbereitet. Er hatte auch schon Proviant besonders für mich, Wolldecken, warme Kleidung, Pelzmützen und Stiefel im Auto für unseren Fußmarsch deponiert falls unser Plan nicht klappen sollte, oder wir eine Panne hätten. Er hatte sich Landkarten besorgt und die Route perfekt studiert.

Ohne zu wissen, wie die Straßenverhältnisse wirklich waren, fuhren wir mit einem seltsamen Gefühl los. Schneetreiben hatte eingesetzt. Er meinte, dass die schlechte Sicht und die Dunkelheit unser Vorteil wäre. Aber er hatte ständig Angst, dass wir uns noch festfahren könnten oder dass wir verfolgt würden. Er konnte gut fahren und wir kamen auch gut voran. Clemens hatte sich die Strecke gut eingeprägt und ich, mit Karte und Taschenlampe auf dem Schoß, markierte fortlaufend unsere Positionen und markante Punkte. Keine Konversation, nur mit gelegentlichen Hinweisen steuerte er unseren Fluchtwagen.

Wir hatten unheimliches Glück. Ich war so stolz und bekomme heute noch Gänsehaut. Aber welche Alternative gab es denn im Lager für uns? Sollte Clemens weiterhin Menschen tot schießen und vielleicht mich auch? Oder sollte ich in irgendeiner Fabrik verrecken?“

Anne machte eine Pause. Bernd sagte nichts.

„Die Fahrt dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Wohl so zwanzig Kilometer von dem Ziel entfernt steuerte Clemens den Wagen abseits in einen Waldweg und fuhr ihn in einer Böschung fest. Falls wir gesucht würden und die das Auto entdeckten, könnten sie annehmen, dass die Fahrt eigentlich noch weiter in eine andere Richtung hätte gehen sollen.

Dann schnappten wir uns das Gepäck und stapften querfeldein durch das Gelände. Unsere Spuren verwischte das Schneetreiben gleich wieder. Nur gut, dass Clemens so gut mit Karte und Kompass umgehen konnte. Alle paar Minuten kontrollierte er den Kompass mit der Taschenlampe, denn es war ja stockfinster. Allein hätte ich mich in der Wildnis verlaufen und wäre erfroren. Clemens staunte, dass ich so tapfer durchhielt. Er sah ja nicht, wie ich in seiner Spur mit meinem Gepäck und letzter Kraft hinter her taumelte.

Nur einmal machten wir eine kurze Pause, um einen Schluck Tee aus seiner Feldflasche zu nehmen. Glücklicherweise hatte schon etwas von dem Proviant im Auto gegessen, denn ich hatte ja nur die schei... Lagerdiät im Magen. Ich weiß nicht, nach wie vielen Stunden wir tatsächlich das kleine Gehöft frühmorgens im Dunkeln erreichten. Ich glaubte schon nicht mehr dran. Es kam mir wieder wie eine Ewigkeit vor. Wir zitterten beide, weil wir wohl nicht wussten, was uns jetzt erwarten würde.

Die alten Bauersleute, so Ende 60, gingen schon immer früh ins Bett, spätestens um acht Uhr. Ich wusste, dass die Schlafstube neben der Küche lag und klopfte zaghaft mit gemischten Gefühlen an das Fenster. Ängstlich hatte der Bauer sich seinen Mantel übergeworfen und eine Laterne angezündet, denn Elektrizität gab es dort in der Abgeschiedenheit ja nicht. Er öffnete schlaftrunken und erwartungsvoll die Küchentür. Seine Frau hatte sich abwartend im Bett aufgesetzt. Als sie verwundert meine Stimme hörte, sprang sie aus dem Bett und bat uns, ohne zu überlegen, in die warme Küche. Wir klopften den Schnee von der Kleidung, zogen unser feuchtes Schuhzeug aus und traten ein.

Clemens stellte sich nur mit seinem Vornamen vor. Nun kannte ich ihn auch endlich, denn bisher war er ja für mich stets ‚Herr Obersturmführer‘. Nein, ich sagte nicht, dass er ein SS Mann war. Das war wohl besser so. Aber dass er kein Mithäftling war, vermuteten sie sicherlich. Später erzählte ich nur einmal, er sei ein ‚Aufpasser’ gewesen.

Der alte Bauer zögerte. Wenn sie uns beiden Unterkunft gewährten und wir erwischt würden, bedeutete es für alle den Tod, denn sie säßen nun ja auch mit im Boot. Aber er hatte auch Mitleid mit uns.

Ich entschuldigte mich für den nächtlichen Überfall und berichtete von dem unsäglichen Lager. Sie hatten schon davon gehört, dass wir abgeholt worden waren, aber Genaues wussten sie nicht. Wir baten, auf dem Heuboden schlafen zu dürfen, bis wir weiterziehen würden, obwohl wir gar keinen Plan hatten, denn im Stillen hatten wir ja  gehofft, bleiben zu können. Nein, nicht auf dem Boden wir sollten uns doch erst einmal im Wohnzimmer schlafen legen und uns ausruhen, meinte die Frau.

Ich schlief auf dem weichen Sofa und Clemens auf dem harten Fußboden mit dem Rucksack unter dem Kopf. Im Lager war es umgekehrt. Da musste ich auf der harten Pritsche schlafen und Clemens im Bett auf einer weichen Matratze. Wir deckten uns bisschen mit irgendwas zu. Obwohl wir hundemüde waren, konnte durch die Ereignisse unserer Flucht von Schlafen zunächst keine Rede sein und Clemens? Er fühlte sich verantwortlich für unsere Aktion, die ihn doch sehr belastete. Er betete, weinte und schluchzte.

Der kleine Raum wurde wenig genutzt, war auch nicht geheizt, weil die beiden Alten ja meist in der Küche lebten. Ich hätte mir auch nie zuvor im Traum vorstellen können, einmal mit einem SS-Mann in einem Zimmer zu schlafen. Am Morgen wusste ich, es war kein Traum und mir wurde klar, dass er im Grunde doch sehr lieb und höflich war. Was in seinem Kopf vorging, wusste ich natürlich nicht. Wir sprachen untereinander auch mit keinem Wort über das Lager. Was hinter uns lag, gab es im Moment einfach nicht mehr.

Unter dem Kruzifix auf der Eckbank in der Küche waren wir am Morgen zusammen gerückt. Die Bäuerin hatte den Herd angeheizt und Frühstück gedeckt. Clemens hatte mir auch schon etwas Geld gegeben, damit ich es der Bäuerin gleich noch vor dem Frühstück zustecken sollte, um unsere Bleibechance zu erhöhen. Das war sehr gut.

 Jeder schnitt sich eine dicke Scheibe selbstgebackenem Brot ab und schmierte etwas Selbstgemachtes drauf, Marmelade, Fett oder Quark und dazu ein Becher warme Milch. Einfach, rustikal nicht so opulent, wie Clemens es in der letzten Zeit sicherlich gewohnt war, aber es schmeckte ihm offensichtlich auch und mir erst recht. Nun musste man überlegen wie es weiter gehen sollte. Die Bauernleute gaben uns zu verstehen, dass sie uns bei dem Wetter nicht gehen lassen könnten, und trotz der großen Gefahr dürften wir vorerst bleiben, aber in der Wohnung wäre es für alle zu gefährlich.“

„Da ist euch aber ein Stein vom Herzen gefallen. Alleine, ohne dich, hätte Clemens wohl nicht in der Fremde bei dem Wetter überlebt“, unterbrach Bernd gedankenvoll.

„Das war ihm auch bewusst. Und ich allein hätte nicht fliehen können. So war das. Irgendwann später sagte mir Clemens, wenn die Bauersleute uns abgewiesen hätten, dann hätte er sie mit seiner Pistole gezwungen.

Es war ein kleiner Bauernhof, ein Pferd, zwei Kühe, vier Schweine, ein paar Schafe und Federvieh. Entsprechend waren auch die Ausmaße der Gebäude. Im Viehstall war auch das Plumpsklo und eine Waschküche mit einem Herd und einem Kessel zum Wäsche kochen oder wenn geschlachtet wurde. Trinkwasser fürs Haus und fürs Vieh musste man aus dem Ziehbrunnen auf dem Hof holen. Das war langer Baum, der als Wippe auf einer Astgabel lag. Am Baumende war eine lange Stange mit einem Eimer dran. So wurde das Aufholen durch das Gegengewicht ganz leicht. Die Wasserversorgung wurde später dann Clemens Aufgabe, die vorhandenen Behältnisse stets aufzufüllen. Warmes Wasser für die persönliche Körperpflege entnahmen die Bauersleute aus einem Beikessel, der am Herd war und so ständig mit warm gehalten wurde. Mit einer Kelle schöpften sie zum Waschen Wasser in eine Schüssel.

Zum Heuboden führte von außen eine Leiter. Der Bauer kletterte mit Clemens hinauf, um sich nach einem versteckten Platz im Stroh umzusehen. Der Stall war oben ganz aus Holz gebaut. Vor einer Nische wollte Clemens mit den Brettern und Latten, die dort noch lagerten, einen Verschlag zimmern und rundum alles mit Heu und Stroh abdecken. Keiner würde dahinter noch einen Raum vermuten. Der Bauer war einverstanden. Seine einfachen Werkzeuge reichten für das Vorhaben auch völlig aus, fand Clemens.

Erstaunt war ich von Clemens handwerklichem Geschick und wie schnell und perfekt ihm die Arbeit von der Hand ging. Der Eingang zu dem Raum war von innen mit einer Querlatte fest zu verriegeln und nicht unter dem Heuhaufen erkennbar. Vor die Lüftungsöffnung in der Außenwand zimmerte er eine Klappe. Durch die Stallwärme unter dem einfachen Holzfußboden war der Raum auch einigermaßen temperiert, stellten wir fest. Ich hatte ihm tatkräftig bei der Arbeit geholfen, was uns schon näher brachte und beide ja auch von unserer prekären Situation ablenkte. Schon als die ‚Höhle‘ fast fertig war, hatten wir auf Stroh dort oben geschlafen, um uns zu verstecken, falls das Haus durchsucht würde. Wir hatten Glück. Auch in der Zukunft wurde nie kontrolliert.

Unser gesamter Besitz hing an Nägeln in den Wänden, was nicht hängen konnte stand auf Bretterborden. Bei der ‚Raumaufteilung‘ waren wir beide uns einig – bis auf bei den Kojen. Ich meinte, ein einzelner Schlafplatz in der Enge des Raums wäre doch sinnvoller als zwei. Außerdem könnte man sich dann ja auch gegenseitig etwas wärmen, falls erforderlich, denn unsere erste Nacht fand ich doch etwas kalt. Eigentlich war es spaßig gemeint, aber weil ich ihn so erwartungsvoll ansah und wohl auf seine Zustimmung hoffte, war er einverstanden. Ich fand es einfach normal, wenn man so zusammen wohnte. Da war bewusst kein erotischer Gedanke dabei, denn ich hatte ja überhaupt keine Ahnung was das ist - woher auch? Obwohl Clemens sich vorgenommen hatte mit seiner väterlich, vorsorglichen Haltung einer intimen Beziehung vorzubeugen, reizte mich irgendwie seine Nähe.

 Der Bauer hatte eine Laterne und zwei große Schaffelldecken spendiert. Eine legten wir auf das Stroh in der ‚Schlafbox‘ die andere war zum Zudecken. Für mich wurde die folgende Nacht denn auch zu einem schrecklich aufregenden Abenteuer, als Clemens zu mir in die kuschelige Wolle der Decken kroch. Ich hatte Herzklopfen und rutschte gehemmt immer weiter an die Seite, um ihn nicht zu berühren. Nach einer Weile hätte ich es allerdings zu gern getan, als es so mollig warm wurde.

Clemens hatte eine so liebevolle Art, dass ich mich in den feschen Mann verknallte. Schon bald musste er zugeben, dass ich Recht gehabt hatte – zu zweit war es dann doch angenehmer im lauschigen Fell der ‚Schlafbox‘ und das Wärmen funktionierte gut. Ich war ja so verliebt und ihm regelrecht verfallen und ich glaube Clemens ging es ebenso. Er sagte aber nichts.

Im innersten meines Herzens hatte ich wohl auch Sehnsucht nach einem neuen Zuhause, denn ich hatte ja sonst niemanden mehr auf der Welt. Er meinte nur, solange wir uns in der kleinen Höhle versteckten, müssen wir immer ganz lieb zueinander sein und uns nie streiten. Dann gab er mir den ersten kleinen Kuss auf die Stirn und meinte, ich sei doch ein vernünftiges Mädchen.

Den nächsten Tag krochen wir abwechselnd in das Fell, um uns aufzuwärmen.

Dann in der dritten Nacht, ich weiß nicht, was mich antrieb. Im Halbschlaf und in meiner natürlichen Teenagerlust begann ich, mich unbewusst selbst am ganzen Körper zu streicheln und dann auch Clemens vorsichtig zu ertasten. Er genoss es offenbar und ich auch.

Als unbewusst meine Hand weiter den nicht öffentlichen Sperrbereich berührte, erschrak ich und zog meine Hand kurz zurück, denn es war ja ganz anders, größer, als ich es einst bei den Putten im Park gesehen hatte und fragte spontan: ‚Bist du krank‘? ‚Nein‘. Doch gleich darauf überkam mich schon ein Gefühl wie ein Elektroschock, dass ich mir auf die Lippen biss, um nicht zu schreien.

Ich freute mich nun den ganzen Tag, und konnte es kaum erwarten, wieder mit ihm unter das Schaffell zu kriechen, um das Ritual zu wiederholen. Doch wo Amor nun schon so viele Pfeile verschossen hatte, konnte Eros nicht länger untätig bleiben. Ich hatte im Grunde gar keine Ahnung, aber Clemens kannte das Spiel. Sanft und liebevoll erlernte ich von ihm die aufregendste und schönste Sache der Welt, die uns fortan unsere Tage und Nächte in der Quarantäne versüßte. Da ich noch nie von diesem Phänomen gehört hatte, glaubte ich, das sei unsere Erfindung. Auch weil Clemens noch sagte, dass wir niemandem davon erzählen sollten.

Schon bald wurde mein Verlangen so groß, dass ich immer häufiger daran denken musste, und Clemens fragte mich dann: ‚Woran denkst du‘? Deshalb lachte ich gestern, als du mich gefragt hast, Bernd. Später wurden aber meine Signale so stark, dass Clemens sie wortlos empfing.

Ich war so glücklich, dass er mir praktisch mein Leben geschenkt hatte und mir jetzt ständig so viel Freude bereitete. Ich kann mich auch nicht an irgendwelche pubertäre Krittelei meinerseits erinnern, die unsere Stimmung hätte trüben können.

Ich freute mich, dass er auf alle meine Fragen eine Antwort wusste, und er freute sich, dass ich alles so interessiert aufsog. Es lenke uns auch von unserem Höhlendasein ab, damit wir keinen Käfigkoller bekämen, meinte er.

Da ich ja in der Schule als Jüdin gemobbt wurde, bis ich sie schließlich in Berlin  so früh verlassen musste und nach Polen zu Verwandten kam, bestand bei mir in jeder Hinsicht ein untrügliches Bildungsmanko.

Weil ich weiterhin so wissbegierig war, und er es so kurzweilig und lustig machte, hielten wir diesen Heimunterricht während unserer ganzen Quarantänezeit ab. Denn es gab ja sonst keine Abwechslung, keine Bücher, keine Lektüre, kein Papier zum Schreiben.

Es gab keine Verpflichtung, keinen existenziellen Kummer oder Neid, nichts was uns hätte ablenken können. Wenn wir nicht auf dem Hof halfen, gab es nur noch unsere endlosen Gespräche und unsere täglichen Aufwärmrituale. Wir wurden uns auch im Denken immer ähnlicher. Clemens hat mich fortwährend mit seinem Alltagswissen, seinen toleranten Moral Philosophien bestärkt, eine selbstbewusste Frau zu werden und wie ein Mann zu denken und zu fühlen, denn die Frauen hatten damals noch einen anderen Stellenwert. Was du im Kopf hast, kann keiner dir nehmen. ‚Anne, du musst bewusst selbst dein Leben in die Hand zu nehmen! In diesem Sinne verlief unsere tägliche Konversation. Ich muss sagen, eigentlich hat es in der Zeit damals nie lange Weile gegeben, so sehr war ich in seine Gedanken eingedrungen. Er gab mir das Gefühl, die Welt bestünde nur aus uns, denn glückliche Erinnerungen aus meinem bisherigen Dasein, die mich einholen könnten, hatte ich nicht.

Nachdem wir später vom Pfarrer Bleistift und Papier bekommen hatten, habe ich täglich Tagebuch geschrieben. Da ich in der Grundschule nur das Alphabet und ein paar einfache Worte gelernt hatte, schrieben wir es gemeinsam. Ich fand es toll, dass ich lernte, so meine Gedanken zu Papier bringen zu können und die Rechtschreibung zu erlernen und meine Schrift wurde auch immer besser. 

Weil es mir so viel Freude bereitete, schrieb ich auch frei und unbekümmert über unser Intimleben und Clemens half und korrigierte. Ich wusste ja nicht, dass es ein gesellschaftliches Tabu war, falls das Thema unter die Bettdecke ging. Clemens freute sich, wenn ich so naiv putzige Worte dazu erfand.

Mit einfachen Strichen malte er die Landkarten von Deutschland, Europa und der ganzen Welt. Das fand ich spannend. Wenn wir darüber sprachen, schrieb ich die Namen der Städte und Länder dazu. Clemens erklärte mir die Welt, in die wir nach dem Krieg, wenn Frieden ist, reisen werden. Mit dieser Illusion kamen wir gut durch die Zeit.

Bei so viel räumlicher Nähe war es ja nicht anders zu erwarten, dass unser unersättliches Liebesspiel schon bald fruchtete. In der Grundschule hatten wir gelernt, neue Blumen gäbe es, wenn die Biene auf der Blüte säße. Und ich hatte auch gehört, wenn ein Mann eine Frau küsst, dann bekommt sie ein Kind. Deshalb habe ich auch immer darauf geachtet, dass ich Clemens als erste küsste. Ich wurde schwanger trotz aller Vorsicht. Clemens klärte mich auf und kümmerte sich fürsorglich während der Schwangerschaft um mich.

Neun Monate später waren wir zu dritt. Christian kam in der kleinen Bauernküche auf einem Strohsack als gesunder Knabe auf die Welt. Fachkundig begleitet von der alten Bäuerin – kein Problem, meinte die, weil sie doch schon vielen Kälbern auf die Welt geholfen habe.  

Clemens bastelte einen ‚Kinderwagen‘, praktisch eine Schubkarre mit zwei Holzrädern. Die Bauersfrau sponserte einen Wäschekorb, der genau darauf passte.

So sehr wir uns auch über unseren Sprössling freuten, umso mehr machten wir uns Gedanken über die Rückreise ins Reich.

Im Laufe der Zeit war unser ‚Apartment‘ immer komfortabler und etwas größer geworden. Zu unserem Wohlstand, der an den Nägeln in den Wänden hing, kamen jetzt die Babysachen hinzu.

Wir machten uns weiterhin auf dem Hof nützlich, halfen im Stall, auf dem Feld und bei Holzhacken im Wald. Wir lernten das bescheidene Leben auf dem Land und den Umgang mit den Lebensmitteln. Wenn ein Schwein geschlachtet wurde, gab es praktisch keinen Abfall.

Die Bauersleute freuten sich über unsere Hilfe und wir uns über das einfache Essen. Ich lernte kochen und melken, Clemens reparierte alles Mögliche und half in der Ernte. Mittlerweile war unsere Angst, entdeckt zu werden, nahezu verflogen. Der Bauer beantwortete neugierige Fragen mit, wir seien Verwandte oder Bekannte aus der Stadt.

Nur einer war schon nach kurzer Zeit eingeweiht worden, der Pfarrer. Er war keiner jener Betbrüder, die auf der Erde wandelten, um mit Sprüchen die Welt zu verbessern oder mit erhobenem Zeigefinger unsere sündige Zweisamkeit und unseren unehelichen Geschlechtsverkehr zu missbilligen. Er war ein Kümmerer, sehr realistisch in Wort und Tat. Er kam häufiger auch unsertwegen, da wir ja so viel Mut bewiesen hätten, uns fleißig auf dem Hof betätigten und die Alten unterstützten. Wir freuten uns auch, wenn er kam, da sonst kaum Neues aus dem Land und der Welt zu uns in die Abgeschiedenheit drang, denn das Wissen über den Kriegsverlauf beschäftigte uns doch sehr.

Er wurde aber auch zum ‚Geldwäscher‘, denn es ging um die Barmittel, über die Clemens aus dem Lager verfügte. Die Bauersleute konnten nichts ausgeben ohne aufzufallen. Sie führten ja ein sehr bescheidenes Leben.

Doch auf dem frommen Weg war nun ein kleiner Warenverkehr möglich, und wir konnten uns auch bei unseren Gastgebern bedanken und ihnen den einen oder anderen Wunsch erfüllen. So brachte er uns auch die komplette Babyausstattung oder mal ein gebrauchtes Kleidungsstück mit. Für unser Homeschooling bekamen wir Bleistift und Papier, das auch einseitig bedruckt sein konnte. Dafür empfing der Gottesmann dann bei seinem Besuchen jedes Mal eine angemessene ‚Spende‘. Ob er wusste, woher das Geld stammte? Er fragte nicht.

Da Clemens ja mit mir ohne den christlichen Segen in Sünde lebte, würde der Pfarrer uns auch gerne katholisch trauen und Christian und mich gern katholisch taufen wollen. Wir willigten ein und waren auch froh darüber. Aus Furcht entdeckt zu werden, wollten wir aber nicht in die Kirche kommen.

In der Wohnstube kleinen Bauerhauses wurden wir getauft und der heilige Bund fürs Leben geschlossen. Der Bauer und seine Frau bezeugten es. Ich hieß von da an Anne von Bruninghausen und fand den Namen schön. Wir bekamen die christlichen Zertifikate, die ich später sicherlich noch gut als Beleg brauchen könnte, meinte Clemens.

Die Informationen, des Pfarrers aus dem Land waren bedrückend. Viele arbeitsfähige Männer und Frauen aus Polen würden nach Deutschland deportiert für Arbeiten in der Rüstungsindustrie. Glücklicherweise seien ja unsere Bauersleute zu alt dafür.

Um unsere Situation und die politische Lage zu beurteilen, wollte Clemens einen Detektor Radioempfänger bauen, der keine Strom-versorgung benötigte. Die einfache Schaltung dafür hatte er noch aus der Schulzeit im Kopf. Er hatte den Pfarrer gebeten, ihm verschiedene Dinge zu besorgen, aus denen Clemens etwas herstellen könnte. Nun konnte der Gottesmann nicht in einen nächstbesten Laden gehen, aber er kannte ja seine Schäfchen und wusste, wo er am ehesten etwas finden könnte, vielleicht auch ein altes Telefon oder sonst ein ausrangiertes Teil. Sein Stöbern war erfolgreich.

 Und so konstruierte Clemens das Detektor-Gerät. Der Kristall war ein echter Brillant aus seinem Fundus. Schon bald brachte es die ersten Töne aus der Hörermuschel eines alten Feldtelefons hervor. Allerdings brauchte es schon etwas Gewöhnung, um das Gesprochene zu verstehen, das von Störsendern zeitweilig übertönt wurde. Auch wenn es Propaganda von Ost und West war, wusste Clemens es schon richtig zu interpretieren, um sich eine Vorstellung von der Front zu machen.

Er fühlte mit den Menschen bei Freund und Feind besonders bei der Kälte und als der Feldzug zum Stehen kam. Was musste das für ein Massaker sein? Und was haben die vielen Fliegerbomben der Engländer und Amerikaner zu Hause angerichtet? Ja, und wann und wie könnten wir hier je wieder raus? Und wohin? Um uns herum schien doch nur noch Chaos in der Welt zu herrschen. Und was würde uns zu Hause erwarten? Welches zu Hause?

Würden jetzt die vielen Verfolgten und Unterdrückten aufstehen und zurückschlagen? Sollten sie nun erneut ein Caos verursachen wie nach dem letzten Krieg in Russland? Tausend Fragen gingen uns immer wieder durch den Kopf.“

Bis jetzt hatte Bernd Anne andächtig zugehört, ohne sie zu unterbrechen, denn sie konnte ja so gefühlsbetont erzählen. Sie hatten sich mittlerweile mit einem Drink aufs Vorschiff in die Sonne gelegt, und Anne berichtete weiter:

 „Clemens Gemütslage pendelte zwischen Dankbarkeit, nicht in den mörderischen Kämpfen aktiv sein zu müssen und einem schlechtem Gewissen, seine Kameraden im Stich gelassen zu haben. Aber auch die Ungewissheit, was die Zukunft wohl bringen würde. Letztlich überwog aber im Augen-blick die seltene Schicksalsfügung, die Glücksmomente mit seiner bezaubernden Anne, wie er sagte, und unseren Sprössling friedlich und gesund leben zu dürfen.

Aber was würde sein, wenn die Russen hier kämen und in jedem Haus ihr Unwesen trieben? Wenn Clemens dann erschossen und ich vergewaltigt würde? Und was passierte mit Christian? Diese Informationen aus dem Radio konnten nicht nur Propaganda sein.

Das Ende des Krieges schien Ende 1944 nicht mehr fern zu sein. Die deutschen Truppen wurden an allen Fronten zurück geworfen. So beschloss Clemens, sich zunächst allein durchzuschlagen und wenn Frieden sei zuschreiben, wo er für sie drei eine Bleibe gefunden habe. Sein Plan war, ein Schiff auf der Ostsee nach Schweden zu bekommen. So lange könnten wir uns gut getarnt in ihrer Butze auch vor den Russen verstecken, wenn sie denn kämen. Im Rückblick war das allerdings sehr naiv gedacht.

Es war unser letztes gemeinsames Weihnachten 1944: Die Wohnstube im Bauernhaus war geheizt und schön warm. Auf dem runden Tisch lagen eine weiße Decke, etwas Tannengrün und fünf Kerzen. Der Bauer hatte ein Kaninchen geschlachtet, woraus die Bäuerin einen herzhaften Braten gezaubert hatte mit Klößen, Soße und eingelegtem Gemüse. Und danach gab es eingemachte Kirschen. Es schmeckte köstlich und es war still am Tisch. Daran änderten die paar Gläschen mit Selbstgebranntem auch nichts.

Schaurig schmeckte das Zeug, der erste Alkohol in meinem Leben – und noch einen. Der schmeckte auch nicht besser, aber ich wurde plötzlich schrecklich melancholisch. Nur der kleine Christian versuchte etwas Stimmung zu machen. Alle dachten daran, was jetzt wohl die nächst Zeit bringen würde, sprachen aber nicht darüber.

Sie wollten den Abschied am nächsten Vormittag nicht so schwer machen. Sie wollten auch nicht weinen, aber feuchte Augen hatten sie schon. Clemens dankte allen und verabschiedete sich bei mir und klein Christian mit einem lagen Kuss. Wir alle wünschten ihm viel Glück.

Gut ausgerüstet stapfte er durch den tiefen Schnee Richtung Norden davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Es war ein Abschied für immer. Wir haben uns nie wieder gesehen.

Schon gleich nachdem Clemens gegangen war hatte ich den Bauern gesagt, dass ich sie auch verlassen muss. Im Stillen hatte ich schon meine Sachen und den Rucksack gepackt. Ich gab meinen Gastgebern das letzte polnische Geld. Wenn es ihnen zu viel wäre, sollten sie doch dem Pfarrer etwas zukommen lassen. Ich bat um etwas Proviant für unterwegs und ob er uns mit dem Pferdeschlitten bis zu der Straße Richtung Westen fahren würde.

Entgegen unserer Abmachung hatte ich überlegt, dass ein Bleiben noch gefährlicher sein könnte als die Flucht mit vielen anderen. Außerdem sah man es mir ja auch nicht an der Nasenspitze an, dass ich eine Jüdin war. Ich wollte es Clemens vorher aber nicht sagen, dass ich auch nicht in Polen bleiben würde, um ihn nicht zu beunruhigen.

Am zweiten Weihnachtstag hatte der Bauer  klein Christian und mich damals mit dem Pferdeschlitten zur Haupttrasse der Flüchtenden Richtung Berlin und Dresden gebracht. Schon bald konnte Christian nicht mehr laufen und ich musste ihn tragen. Glücklicherweise konnte ich ihn mit meinem Rucksack nach einigen Kilometern Fußmarsch auf einen Handwagen legen, wo auch schon ein kleines Kind lag. Gemeinsam zog ich dann mit der jungen Frau weiter, Tag und Nacht mit kurzen Pausen.

In irgendeinem Bahnhof erwischten wir eine, schon überfüllte Bahn Richtung Westen, alles Frauen, Kinder, alte Männer und jede Menge Gepäck. Christian saß in einer Ecke auf dem Rucksack vor meinen Füßen.

Unterwegs in der Nacht, zog dann eine Mitreisende neben mir eine Schnapsflasche aus ihrer Manteltasche, nahm einen Schluck und reichte sie mir: ‚Prost Neujahr! Hoffen wir, dass alles wieder gut wird‘. Ich nahm einen Schluck und quälte mir ein Lächeln ins Gesicht, wobei ich mit den Schultern zuckte, denn ich wusste ja auch nicht, was mich an meinem Ziel erwartete, falls ich es erreichte.

Nach verschiedenen, nächtlichen Aufent-halten in Hallen oder Hausruinen und x-fachem Umsteigen, Märschen und Flieger-Angriffen erreichten wir nach zwei Wochen im Januar 1945 schließlich unser Ziel, Clemens‘ Elternhaus.

Es war um die Mittagszeit und kalt, als wir ziemlich erschöpft und fröstelnd vor dem feudalen Eingangsportal der Villa ankamen.

Da standen wir nun wie ein Bettlerduo in unserem ärmlichen Outfit, ich mit Pelzmütze, Pelzstiefeln und einem abgetragenen, langen Wollmantel und dem alten Rucksack. An meiner Hand Christian mit einer Wollmütze und in einer zu großen Jacke, die mit einem Strick zusammen gehalten wurde. Die langen Ärmel schützten auch die Hände vor der Kälte. Um seine Schuhe hatte die Bäuerin haltbar Tücher geknotet.

Zaghaft mit Herzklopfen betätigte den großen Türklopfer. In dem Augenblick musste ich an Clemens denken, wie er in unseren vielen Gesprächen mein Selbstbewusstsein bestärkt hatte und war bereit, als die große Tür sich öffnete:

‚Ja?‘

‚Guten Tag. Mein Name ist Anne von Bruninghausen – Frau von Bruninghausen? ‘

‚Nein – sie hat jetzt keine Zeit. Was wollen sie denn von ihr? ‘

‚Ich bin ihre Schwiegertochter‘.

 ‚Wie?‘

‚Ich bin ihre Schwiegertochter‘.

‚Ich werde sie Frau von Bruninghausen melden, sobald sie mit dem Essen fertig ist. Wie war doch gleich ihr Name? ‘

‚Anne von Bruninghausen und Christian von Bruninghausen.‘

‚Bruninghausen?‘

‚Ganz recht, Anne von Bruninghausen. ‘

Diesen ersten Dialog habe ich noch im Ohr. Was wäre, wenn man uns am Ziel abgewiesen hätte? Sitzblockade vor der Tür? Wir waren doch fix und fertig.

Die Frau zögerte und musterte uns ein paar Denk- oder Schrecksekunden lang.

‚Kommen sie‘, und führte uns in die warme Halle, bot uns einen Platz in einem Sessel vor dem Kamin an und mit ‚einen Augenblick, bitte‘, ging sie. 

 Übermüdet und hungrig saßen wir nun in dieser noblen, fremden Welt, von der ich durch Clemens allerdings schon sehr viel erfahren hatte. Gespannt und skeptisch erschien auch gleich die Mutter. Bevor sie etwas sagen konnte, stand ich selbstsicher auf, kramte aus meinem Brustbeutel meine Legitimationen hervor: Den Zettel, auf dem Clemens die Adresse und liebe Grüße an alle – bis bald, Clemens geschrieben hatte und unsere polnischen, christlich -katholischen Zertifikate des Pfarrers und hielt sie ihr hin: ‘Guten Tag, mein Name ist Anne und das ist Christian, Clemens‘ Sohn‘. Erstarrt, wie vom Blitz getroffen, stand sie da, ging einen Schritt zurück und ließ sich in den Sessel hinter sich fallen. Wie sie mir später zählte, wusste sie ja inoffiziell, dass Clemens als Fahnenflüchtiger mit einer Jüdin desertiert war, aber diese junge Frau sah doch auch gar nicht wie eine Jüdin aus. Clemens war ja offiziell verschollen und für tot erklärt worden. Hatte er nun tatsächlich überlebt und eine Familie gegründet?

Die ‚neue Oma‘ schluckte beherrscht: ‘Ist das wahr? Clemens lebt‘? Nach einer Weile stand sie wieder mit einem ungläubigen Lächeln auf und als wüsste sie nicht was sie sagen sollte, streckte sie uns beide Hände entgegen und hieß uns herzlich willkommen.

‚Ich darf doch Anne sagen‘?

Und weil ihr spontan bewusst wurde, einen Enkel bekommen zu haben, strahlte sie den kleinen Christian an: ‚Wie seinem Vater aus dem Gesicht geschnitten.‘ Da strahlte der Kleine auch. Die Oma war von ihrem Enkel ganz hin und her gerissen und nahm ihn spontan auf den Arm, wobei  Reisedunst und -schmutz sie nicht davon abhalten konnten. Und klein Christian? Er war nur noch hungrig und müde. Sie machte wieder eine Pause, als wüsste sie jetzt nicht weiter und dann: ‚Ich kann es immer noch nicht fassen. Das ist ja ein wunderbarer Lichtblick in unserer traurigen Zeit. Ihr habt ja sicherlich eine recht beschwerliche Reise hinter euch? Woher kommt ihr denn jetzt? Und was ist mit Clemens?

‚Wir kommen aus Polen. Gemeinsam mit ihm wäre es für uns alle zu riskant gewesen. Er wollte zu nächst allein zurück ins Reich, um sich hier zu verstecken, oder nach Schweden, denn so lange noch Krieg wäre, müsste er ja mit der Todesstrafe rechnen. Er wollte schreiben, wenn es sicher wäre, aber ich wollte nicht so lange warten und bin auch gleich abgereist.‘

‚Polen? - So, jetzt sollt ihr aber erst einmal etwas essen. Ihr seid sicherlich völlig ausgehungert - und dann ab in die warme Badewanne - und ins Bett. Frau Esser, unsere Haushälterin, wird in der Zwischenzeit das Fremdenzimmer herrichten und euch etwas zum Anziehen heraussuchen. Morgen reden wir weiter. ‘      

Am liebsten wäre ich mit Christian noch in dem herrlich bequemen Sessel sitzen geblieben und hätte erst mal eine Weile geschlafen, doch die neue Oma nötigte uns ins Gäste WC, wo wir unsere Sachen ablegten. Mit warmem, fließenden Wasser und mit ‚richtiger Seife‘ wuschen wir Hände und Gesicht.

Da immer abends warm gegessen wurde, wenn die Männer aus dem Büro kamen, ließ Oma Eierpfannkuchen mit Marmelade machen. Sie setzte sich glücklich und neugierig zu uns und beobachtete fasziniert ihren Familienzuwachs. Unterbrochen von ihren Fragen aßen wir, so viel wir konnten und hätten gern noch mehr gegessen, aber dann wäre uns wahrscheinlich schlecht geworden. So lecker schmeckte es.

Nachdem sie wusste, dass wir uns unter sehr spartanischen Verhältnissen in Polen bei einem Bauern versteckt hatten, begleitete sie uns mit ein paar Worten für einen guten Schlaf auf unser Zimmer und ließ Wasser in die Wanne laufen.

Dieses Schaumbad gemeinsam mit Christian war wohl das größte Highlight bisher in meinem Leben. Bevor wir aber aus Müdigkeit in den Fluten versanken stiegen wir      um in die herrlichen Federbetten und versanken dort bis zum Morgen. Am liebsten wäre ich mit Christian dann noch in dem wonnig warmen, weichen Bett geblieben, doch wir würden sicherlich zum Frühstück erwartet.

Da zu der Zeit die Kleidung einen höheren Stellenwert als heute hatte und           gesamt nicht so vielen Trends unterworfen war, wurde vieles sorgsam aufgehoben und häufig bei Bedarf weiter gegeben. Die Haushälterin hatte           eine geschmackvolle Auswahl aus dem Fundos getroffen und für den Christian einen Matrosenanzug gefunden, wie er damals für die Kleinen           Mode war.

Nach einer Katzenwäsche schlüpften wir in die tolle saubere Garderobe und begaben uns nach unten in das Esszimmer, wo uns ein opulentes Frühstück erwartete. Noch nie in unserem Leben hatten wir so was überhaupt gesehen, ja wann und wo denn auch? Bohnenkaffee und Kakao kannte ich überhaupt nicht!

Die neue Oma registrierte wohlwollend das freundliche Verhalten ihres Enkels, der strahlend und ohne Scheu sich in der neuen Umgebung           bewegte. Sie staunte auch, wie wir miteinander umgingen und ich mit ihm sprach, obwohl er noch nicht richtig reden konnte. Vielleicht hatte es sich    durch unsere bescheidenen Lebensbedingungen ergeben, die gegenseitige Rücksichtnahme auf engstem Raum. Es gab da kein lautes Wort bei uns, keinen Streit. Wir schliefen alle drei in einem Bett, und wenn Papa und Mama Liebe machten fand er es lustig. Christian war immer dabei.

Er hielt auch tapfer durch, als das Frühstück schließlich bis zum Mittag dauerte, denn es gab von beiden Seiten viel zu berichten, und klein Christian hing mit den Augen an den vielen Dingen, die er in dem ‚riesigen‘ Esszimmer entdeckte und wenn er auf etwas zeigte: ‚Da‘? Gab ich ihm stets eine Antwort, die er zwar nicht verstand aber damit zufrieden war.

Durch die vielen Gespräche mit Clemens in Polen hatte ich so viel aus seinem Leben und dem Umgang zu Hause erfahren, dass ich mich hier ganz selbstbewusst einbringen konnte, obwohl seine Mutter es mir auch wohlwollend leicht machte.

Als nach dem Abendbrot Clemens‘ Vater und Bruder Claus aus dem Büro zurück kamen, war der Familienzuwachs noch nicht im Bett, damit man sich kennen lernen konnte, aber Cristian schlief schon auf dem Sessel am Kamin. Außerordentlich höflich begrüßten Vater und Sohn mich mit Handschlag und hießen uns herzlich willkommen, wobei wir uns höflich gegenseitig musterten. Claus‘ Charme hatte mich etwas verlegen gemacht wohl auch, weil ich mich so sehr begutachtet fühlte. Ich weckte Christian und stellte ihn vor. Noch einmal nahm der Großvater meine Hand, hielt sie lange fest und legte seine linke noch darauf. “Willkommen“, sagte er leise ein weiteres Mal, wobei auch sein Blick auf Christian fiel. Müde, mit großen Augen sah der Kleine die beiden an und reichte ihnen mit einem gequälten Lächeln die Hand. Nach der kurzen ‚Musterung‘ und mit ein paar erfreulichen Worten von Opa brachte ich den müden Jungen in mein Bett, wo er sofort wieder einschlief.

Ich ging abermals zurück zur Familie, um mich noch ein wenig auszutauschen, denn es gab ja noch viel zu erzählen, was die neue Oma mir zum Teil auch schon abverlangt hatte. Es war ein wunderbares Gefühl, eine Familie zu gefunden zu haben.

Der neue Opa wurde ernst: ‚Offiziell ist Clemens verschollen und für tot erklärt worden. Inoffiziell haben wir aber auch erfahren, dass er mit einer Jüdin desertierte. Der Nazistachel sitzt bei vielen noch tief und es laufen genügend Denunzianten herum. Deshalb ist unser Plan: Du bist jetzt die Affäre, die Claus einst bei einem Besuch in Berlin hat sitzen lassen. Ihr seid jetzt ausgebombt und zu uns gekommen, weil ihr nicht wusstet wohin. Eure Papiere sind alle verbrannt. Falls sonst die Wahrheit raus kommt, auch dass du damals mit Clemens getürmt bist, sind wir alle dran. Das haben wir uns überlegt. Ist dir das Recht‘? Claus und ich lächelten uns an. ‚Danke, wir werden es schon schaffen, und Christian verrät auch nichts,‘ meinte ich schmunzelnd. Claus nickte.

Im Betrieb räumten die von Bruninghausen weiter auf und versuchten alles, was sie politisch belasten könnte, zu vernichten. Sie wussten, wenn Deutschland nicht sofort kapitulierte, könnte es ein mörderisches Ende durch die flächendeckenden Bombardements geben.

Der Hass der Feinde war so groß, dass nach dem Morgenthau-Plan Deutschland zu einem reinen Agrarstaat werden sollte und alle Männer zwangssterilisiert werden sollten.

 Bei den Zwangsarbeitern, die in der Fabrik zugeteilt worden waren, spürte man durch die Mund zu Mund Propaganda eine Endzeit-stimmung, aber die Aufpasser achteten auf das absolute Sprechverbot und, dass keine Unruhe entstehen konnte.

Naheliegend war, dass die anrückenden Feinde größere Häuser und Villen konfiszieren würden. Deshalb begannen wir Frauen Lebensmittel, die guten Weine, sowie lebenswichtige und wertvolle Dinge, auf einen LKW zu laden, um es in Sicherheit zu bringen.

Als wir dann alle von einem Tag auf den anderen die Villa verlassen mussten und auf die Straße gesetzt wurden, weil die Sieger das Anwesen beschlagnahmten, zogen wir gemeinsam in die Werkstatt einer Möbelfabrik. Sonst gab es keinen alternativen Wohnraum in der Zeit, weil wegen der Zerstörungen und der Flüchtlinge schon alles belegt war. Schwiegervater und Claus wurden bald verhaftet, weil das Werk Rüstungsgüter produziert hatte.

Schwiegermutter bekam später die Genehmigung einen Teil des durch Bomben geschädigten Büros ihrer Fabrik zum Wohnen zu nutzen und erlebte, wie die Besatzer die Maschinen in den Werken im Rahmen der Reparationsforderungen demontierten, um sie nach England zu schaffen.

Irgendwann konnten wir wieder in die Villa zurück. Auch und Opa und Claus waren in der Zwischenzeit wieder da. Der Zustand war erträglich. Christian und mich hat es noch nicht einmal so sehr getroffen. Wir waren ja Kummer gewohnt.“

So lange hatte Anne noch nie von sich erzählt und auch noch nie in einem Stück Urlaub genommen, sonst meist nur eine Woche oder zwei. Doch dieses Mal war Bernd Schuld. Sie hatten eine herrlich harmonische Zeit miteinander, auch wenn Anne ihre ganze Polen Odyssee erzählen musste, aber Bernd war ja auch an ihrer Geschichte so interessiert, dass er sie durch Zwischenfragen stets zum Erzählen anstieß.

Anne wurde nachdenklich. „Aber ich muss immer noch an Clemens und an unsere Zeit in Polen denken. Er fehlt mir. Christian und ich waren noch einmal wieder dort, wo sein Geburtshaus stand. Es war ein seltsames Gefühl, alles leer und verfallen. Ich zeigte ihm die kleine Küche, wo ich am Boden auf einem Strohsack lag, die Bäuerin vor mir kniete und Clemens mich von hinten hielt.“

Mittlerweile waren sie wieder in der Schlei an ihrem Liegeplatz und hatten fest gemacht. Anne umarmte Bernd. „So, nun ist unsere schöne Zeit vorbei und ich muss dich leider wieder verlassen. War doch schön? Aber jetzt trinken noch einmal gemütlich Kaffee in der Hütte und heute Abend könnten wir noch eine Kleinigkeit essen in einem netten Restaurant. Was hältst du davon?“

„OK, fein, das machen wir.“

„ Ja, und morgen Nachmittag müssen wir unbedingt noch zu Gesche zum Kaffee. Sie hat doch damals Clemens nach dem Krieg aufgenommen, als er in Polen abgehauen ist. Aber das kann sie dir selbst erzählen, OK? Ich habe schon zu viel gequatscht.“

Anne hatte an Land das Ruder wieder in der Hand.

 

„OK, machen wir. Was für eine Hütte?“

„Du wirst schon sehen, ist nicht weit.“

Anne schnappte sich ihre Schlüssel und marschierte mit Bernd den kleinen Pfad am Wasser zu einem bezaubernden Reetdach Häuschen mit einem runden Schornstein aus Feldsteinen. Es ist in nicht unbedingt die ortsübliche Bauweise eher ein wenig Obelix-Architektur. Aber das Ganze sei ein Spiel mit Stil, leicht verrückt, aber sehr vergnüglich und ganz toll anzusehen, fand Bernd. Innen ein großer Wohnraum mit offener Küche, in der Feldsteinmauer ein Kamin, und davor ein breites ‚Lümmel Sofa‘ mit Fell. In der Mitte des Raums ein rustikaler Esstisch aus dicken Eichenbohlen. Und nebenan das Schlaf-zimmer mit einer originellen  Badestube. Eine Holztreppe führte zu zwei Kammern auf den Spitzboden. Bernd konnte nur staunen. Das war Clemens Geist, den Anne spontan wieder spürte, und sie fühlte sich jedes Mal wieder an die Zeit mit ihm in ihrem Liebesnest in Polen zurück versetzt. Ihr war, als ob Clemens jeden Augenblick reinspazieren könnte, um weiter zu basteln.

 „Bernd, sieh dich ruhig bisschen um“, sagte Anne stolz so nebenbei und griff zum Telefon: „Hallo Cristian, wir sind heil zurück. Wie läuft’s bei euch? … Unser Törn war wunderschön. … Schicke mir doch bitte übermorgen zu 14 Uhr den Wagen. …“

Und dann: „Guten Tag, Gesche, wie geht’s … wir sind wieder da. Mein Kapitän und ich möchten uns morgen bei dir um Kaffee einladen….“

Anne machte Kaffee und stellte ihn mit Gebäck aus der Keksdose auf einen kleinen Tisch vor dem Sofa.

„Das Haus war ganz früher ein Unterstand für die Fischer, dann Vieh und Schafstall. Halb verfallen hat Christian es von Gesche bekommen für eine Mark. Das alles hat er hier alleine gebaut“, erklärte Anne stolz. Bernd wurde fast ein wenig eifersüchtig, als er alles bewundern musste, weil sie so von Christians Talenten schwärmte.

Neben der Hütte, in Clemens ehemaliger ‚Klüterkammer‘, haben die von Bruning-hausen nun ihren ‚Ferienwagen‘, mit dem sie im Urlaub hier für ihre Ausflüge unabhängig sind. So lange Bernd noch an seinem Boot zu tun hätte, sollte er den Wagen denn auch benutzen, damit er für Besorgungen mobil bliebe.

Für das Candlelight Dinner zum Abschied hatte Anne ein kleines romantisches Restaurant ausgesucht. Auch wenn sie mit ihren Gedanken schon wieder in der Firma zu sein schien, und die Stimmung etwas wehmütig wurde, war es ein schöner Abend. 

Seit ihrer Eheschließung mit Claus, bei der vertraglich beidseitig diskrete Kontakte und Affären ausdrücklich zugestanden worden waren, hatte sie nur kurze, nicht tiefgehende Liebeleien. Jetzt nach sechs Wochen mit Bernd war es jedoch schon anders.

 

Bei Gesche

 „Tag, Gesche, wir kommen auf meine Einladung. Ich habe dir Kuchen und meinen Kapitän Bernd mitgebracht.“

„ Guten Tag, Frau … ?“

„Gesche reicht.“

Sie duzte jeden, nur nicht, wenn sie förmlich wurde. Sie war eine große, schlanke Frau mit weißen Haaren, die zu einem langen Zopf geflochten nach vorn über ihre linke Schulter fielen. Und im Nacken hatte sie immer einen Schalk. Trotz ihres Alters war ihre natürliche Schönheit erhalten geblieben. Erst auf den zweiten Blick konnte man ihr arbeitsreiches Leben als Bäuerin erahnen. Den Hof hatte sie mittlerweile an ihren Neffen abgegeben und wohnte nun in der Altenteiler Kate mit ihrer Katze und ihrem Hobby, die Aquarellmalerei.

Es wurde, wie immer bei ihr ein fröhlicher Kaffeeklatsch, wobei Anne auch von ihrem ersten Törn mit der schönen neuen Yacht schwärmte und versprach, beim nächsten Mal wollten sie Gesche dann auch mitnehmen.

Clemens, Christians‘ Vater und Gesches Mann waren Kriegskameraden gewesen. Als Gesches Mann im Krieg gefallen sei, war Christians Vater desertiert und bei Kriegsende hier mit falschem Namen untergetaucht. Die Familie von Bruning-hausen glaubte alle Jahre er sei auch nicht mehr am Leben. Alle Nachforschungen, auch durch das Rote Kreuz, waren ergebnislos.

Erst später haben sich unsere Familien kennen gelernt. „Aber das kann Gesche dir ein anderes Mal selbst erzählen, denn du wirst künftig noch häufiger hier einen Kaffee trinken“. Und so kam es denn auch.

Eine letzte Nacht verbrachten die beiden Turteltauben noch auf der Yacht bis am nächsten Tag der Chauffeur Punkt 14 Uhr Annes Gepäck in der großen Limousine verstaute und sie sich artig und formell per Handschlag von Bernd am Wagen verabschiedete. Sie stieg im Fond ein, wo ein Aktenkoffer von Christian lag, um schon während der Fahrt die aktuellen Unterlagen zu sichten, denn sie mochte nicht stundenlang während der Fahrt auf die Straße schauen oder mit dem Fahrer Smalltalk haben.

Was Anne prophezeit hatte, so kam es denn auch: Gesche suchte jemanden zur Unterhaltung. Schon am nächsten Tag erschien sie an der kleinen Werft mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen. Bernd hatte auch schon umdisponiert. Warum sollte er den Versicherungsschaden denn selbst reparieren, wo er doch auf der großen Yacht wohnen konnte und nebenbei ein Auto zur Verfügung hatte? So lernte Gesche das Schiff schon mal kennen als die beiden Kaffee im Salon tranken, wobei denn auch eine unverbindliche Freundschaft mit Gesche entstand. Mal kochte sie für ihn, oder er lud sie zum Essen ein und zusammen machten sie mit dem Auto interessante Ausflüge. Auch als sein Schiff fertig und er wieder in Hamburg war, kam er häufig, um nach Christians Yacht zu sehen, klar Schiff oder einen Törn zu machen. So war es denn auch für Gesche stets eine willkommene Abwechslung, wenn er sie besuchte.

Im Laufe der Zeit erzählte sie denn auch Bernd die ganze Geschichte der von Bruninghausen und wie sie sich kennen gelernt hatten:

„Dass mein Mann und Christians Vater, Clemens ja Kriegskameraden waren, hat Anne dir sicherlich erzählt. Sie lernten sich auf der Führerschule in Bad Tölz kennen. Danach wurden sie zum Dienst in ein Lager bei Krakau in Polen versetzt. Dort wurden sie dann Freunde. Doch beide waren schockiert von den unglaublich, unmenschlichen Machenschaften des Militärs. Es hieß Partisanen sollten erschossen werden. Doch sie konnten es nicht, oder nicht mehr, denn es waren keine Partisanen, wie man ihnen zuvor gesagt hatte. Es waren jüdische Männer, Frauen und Kinder, der Beginn der NS ‚Säuberungs‘ Verbrechen, bevor später die Beschlüsse der Wannseekonferenz konsequent umgesetzt wurden.

Die Kameraden dort versuchte man, mit Alkohol und mit markigen Sprüchen in die Spur zu bringen, wenn sie Skrupel hatten. Aber sie konnten es nicht oder nicht mehr. Dann übernahm spontan der Vorgesetzte wütend das Schießkommando und erschoss meinen Mann von hinten wegen Befehlsverweigerung gleich mit. Christians Vater stand daneben. Das war ein Tag vor Silvester 1941.“

Gesche blickte stumm aus dem Fenster in ihren Garten und dann:

„Gerade hatte ich die Nachricht bekommen, er sei angeblich im Kampf gefallen, da erschienen unangemeldet drei Männer in einem schwarzen PKW. Sie nahmen einfach meine kleine Tochter mit, weil sie eine Hasenscharte hatte und jetzt in der Uni-Klinik Kiel operiert werden sollte. Sie war ein lebhaftes, freundliches Kind. Ich hatte keine Chance gegen diese rüde Vorgehensweise. Nach zehn Tagen wurde sie in einem versiegelten Sarg zurückgeliefert. Sie habe sich totgeschrien. Das war Euthanasie!

Im Sommer war mein Mann noch auf ein paar Tage auf Urlaub gekommen und sagte, es wäre für immer wohl das letzte Mal. Er war nicht wieder zu erkennen. Er war schrecklich reizbar. Sonst lachte er immer. Aber da drückte er mich und weinte nur, dieser starke Mann! Seine Mission in Polen war absolut geheim, doch als ich ihn im Herbst noch einmal besuchte und mich die mitreisenden Frauen nach der Einheit meines Mannes fragten, wussten die schon, was dort passierte.

Als ich wieder zu Hause war, musste ich feststellen, dass durchaus viele es auch wussten, welche Mission mein Mann zu erfüllen hatte und auch, dass er wegen Verweigerung erschossen worden war. Nur ich glaubte, dass es geheim wäre. Während der NS Zeit war er der Verweigerer. Nach dem Krieg der Kriegsverbrecher.

Wie bei uns gibt es auf den Dörfern Denkmäler, wo die Namen der Gefallenen der beiden Kriege in Stein gemeißelt wurden. Man löste das Verbrecherproblem mit der Inschrift ‚Den Gefallenen der beiden Kriege‘ und drehte den alten Stein daneben einfach um, mit den Inschriften der alten Kameraden nach unten.

Mein Mann und Clemens hatten doch freiwillig die Uniform angezogen, um in der allgemeinen Aufbruchsstimmung dem Führer und Vaterland zu dienen. Oder wenn es galt, vielleicht noch die eine oder andere Grenze zu verschieben, aber doch nicht, um wehrlose Menschen einfach so totzuschießen. Hatten sie überhaupt noch ein Gewissen, oder hatten sie es gemeinsam mit dem Fahneneid an den Führer abgegeben? Pausenlos hatte er seine Situation überdacht. Sollten sie aus dem Pflichtversprechen gehorsam immer weiter morden und dabei selbst zugrunde zu gehen? Sie konnten nicht mehr. Den jungen Kameraden ging es ebenso.

Die kalte Witterung machte vorläufig dem Treiben ein Ende, da keine Gruben mehr ausgehoben werden konnten.

Die Deutsche Ostfront kam vor Moskau wegen der starken Gegenwehr zum Erliegen. Nun bekamen die Erschießungskommandos Fallschirme umgehängt und wurden bei Kaluga hinter den feindlichen Linien abgesetzt, um den Feind von hinten zu schwächen. Es gab fast keine Überlebende und Zeugen ihrer zuvor begangenen Massaker mehr.

Clemens, wie er ja richtig hieß, war nicht dabei. Er hatte es geschafft, die Aufsicht für die Asservaten- oder Kleiderkammer zu übernehmen, in der alles deponiert wurde was die Häftlinge abgeben mussten.

Er hatte in der letzten Zeit schon häufiger daran gedacht zu desertieren, falls er wieder dermaßen unselige Kommandos auszuführen hätte, doch eine Flucht war ihm zu riskant. Und wohin sollte er auch da im Feindesland und dann bei der Kälte und dem Schnee?

Dann hatte Clemens alles auf eine Karte gesetzt. Gemeinsam mit Anne, die bei ihm in der Kammer arbeiten musste, riskierte er die Flucht, weil sie ein Ziel hatten. Er hatte sogar seine Dienstpistole mitgenommen, um nicht kampflos zu scheitern, denn seiner Handlung wirklich sicher war er sich nicht. Aber das hat dir Anne sicherlich schon alles aus ihrer Polenzeit erzählt, bis Weihnachten 1944 sich ihre Wege trennten. Er wollte sie und Christian ja nicht in Gefahr bringen, wenn sie gemeinsam zurück in die Heimat reisten.

Nach einem langen Marsch kam er die Straße auf der die vielen Flüchtlinge zu Fuß, mit Handkarren oder Pferdefuhrwerken gen Westen zogen, wurde ihm bewusst, wie gut es ihm in der vergangenen Zeit gegangen war. Einige der Flüchtlinge hofften jetzt aber auch immer noch auf den Endsieg und vertrauten den Worten des Führers. Ja, der Führer würde es schon richten, und sie rächen. Bald könnten sie wieder zurück, hörte er.

Die eine Seite der Fahrbahn nutzten die Flüchtlinge, die andere das Militär auf dem Rückzug und für die Verwundeten Transporte. An einem verlassenen Gehöft hielt ein LKW mit verwundeten Kameraden. Einer konnte die Fahrstöße vor Schmerzen nicht mehr ertragen und weigerte sich, weiter mit zu fahren.

Der LKW fuhr weiter, Clemens schleppte den Versehrten mit in den leeren Stall und legte sich neben ihn ins Stroh. Der Verwundete besann sich und das Stöhnen wurde weniger. Nach einer Weile begann er leise zu reden. Was sollte er noch und wohin? Seine Eltern und sämtliche Verwandten seien alle beim Bombenangriff 1943 in Hamburg ums Leben gekommen. Niemanden hätte er noch auf der Welt. Dann folgte noch einiges aus seinem Leben wie eine Nachlassbeichte.

Als Clemens wach wurde, war es noch dunkel, und als er weiter ziehen wollte, merkte er, dass der Kamerad nicht mehr lebte. In dem Augenblick wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Als ob er den Toten noch tröste wollte, murmelte er ein paar fromme Worte und meinte, gut dass er nun keine Schmerzen mehr hätte. Noch ein paar Minuten harrte er neben dem Toten aus. Ohne nachzudenken, wie automatisch, wollte er wissen, wie der hieß und nahm seine Papiere. Hans Delfs war sein Name. Clemens steckte alles ein.

Als er nun seinen Weg Richtung Küste fortsetzte, musste er ständig an den Toten denken. Dabei fiel ihm ein, wenn er nun in seine Rolle schlüpfte, dann wäre er ja kein Deserteur und auch kein SS Angehöriger mehr, sondern nur ein verwundeter normaler Wehrmachtsgefreiter, denn die persönlichen Angaben im Wehrpass könnten passen. Und da er jetzt auch noch einen kurzen Bart trüge und Hans Delfs auf dem Passbild nicht, würde es niemand merken - so könnte er doch von nun an ‚Hans Delfs‘ sein, verwundet und wehruntauglich.

Trotz der vielen Flüchtlinge im Hafen schaffte Clemens als Hans Delfs die Überfahrt in den Westen nach Kiel. Mit Schmuck, der einst im Lager bei den Häftlingen konfisziert worden war, nahm ihn ein Fischer mit. Somit bestand auch keine Gefahr, dass er kontrolliert würde wie es bei den anderen Schiffen der Fall war.

Er wollte jetzt zu mir, der Witwe seines Kameraden. Sie hatten es sich einst gegenseitig versprochen, falls einem von ihnen etwas passieren sollte, den Angehörigen einen Brief zu überbringen und zu berichten, wie es sich das Ende zugetragen hatte. Bei mir wollte er sich verstecken, bis endlich der Krieg vorbei wäre. Vorsorglich hatte er sich unterwegs schon eine herrenlose Krücke besorgt, um auf dem Weg seine Invalidität zu demonstrieren, obwohl seine Versehrtheit schon dokumentiert war.

In Kiel angekommen war er jetzt nur noch ‚Hans Delfs‘. Er erkundigte sich gleich nach dem Weg in Richtung Flensburg und trennte sich von den übrigen Flüchtlingen, um einer möglichen Registrierung zu entgehen.

Nach einigen Tagen erreichte er unser Dorf an einem Sonntagmittag und fragte nach meinem Hof. Als ich die abgehalfterte Gestalt durch die Scheibe sah, erschrak ich und öffnete die Tür nur einen Spalt. Er stellte sich kurz vor. Wie vom Blitz getroffen starrte ich ihn an und nach einer Schrecksekunde bat ich ihn rein. Er legte ab und wusch sich in der Küche Hände und Gesicht. Ich hatte ihm Erbsensuppe vom Mittag angeboten. Ausgehungert aß er die erste warme Mahlzeit seit langem. Es war ihm peinlich, als die Wärme des Raums seine Ausdünstung intensiv werden ließ und seine letzten ‚Quartiere‘ verriet. Ich fragte und er erzählte. Nein, mein Mann sei nicht im Kampf gefallen, sondern regelrecht hingerichtet worden. Dann übergab er mir den Abschiedsbrief meines Mannes.

Es entstand eine seltsam emotional aufgeladene Stimmung als die Erinnerung an die unselige Zeit wieder wach wurde. Da ich ihm offen und loyal erschien erwähnte Hans schließlich, dass er seinen Namen und seine Identität geändert hätte, weil doch möglicherweise jetzt auf Deserteure und SS Angehörige Jagd gemacht würde. Er wäre nun Hans Delfs aus Hamburg, ein verwundeter Gefreiter der Wehrmacht, dessen Angehörige auch alle bei einem Bombenangriff in Hamburg ums Leben gekommen seien. Als Legitimation hatte er ja den Wehrpass und eine Krücke. Ob er denn bis zum baldigen Ende des Krieges da bleiben könne. ‚Klar doch‘, warf ich ein, weil ich wusste, dass er sich weiterhin verstecken musste, denn noch könnte ein verbiesterter Häscher ihn ans Messer liefern. Auf Anhieb waren wir beiden uns sehr sympathisch, und obwohl das schnelle ‚Du‘ zu der Zeit nicht üblich war, vereinbarten wir Cousins zu sein, also Gesche und Hans.

Ich machte die Knechten Kammer für ihn zurecht und legte ihm Kleidung von meinem Mann hin, die ich noch im Schrank verwahrt hatte. Ich nahm mein Kopftuch ab und kämmte mein Haar, zog eine neue Strickjacke an und drehte mich selbstkritisch vor dem großen Garderobenspiegel. Hans duschte und machte sich frisch. Er fühlte sich wie neu geboren, auch weil er eine so flotte, hilfsbereite Gastgeberin angetroffen hatte, wie er sagte. Bevor ich wieder an die Arbeit musste, tranken wir noch gemeinsam Kaffee. Nun hatte das Schicksal mir diesen netten Mann an meinen Kaffeetisch gesetzt! Dabei wurde mir augenblicklich mein Gefühls-defizit bewusst, das ich alle Jahre verdrängt hatte. Sicherlich auch beseelt von der Vorstellung, dass ich ihn nun in der Hand hätte, weil er sich verstecken müsste, löste bei mir eine gewagt einmalige Affinität aus. Dieser Mann stimulierte bei mir emotional eine wüste Hochstimmung und wühlte meine Sinne so sehr auf, dass ich an nichts anderes denken konnte. Was war plötzlich los mit mir?

Doch ich musste in den Stall an die Arbeit. Eine Angestellte aus dem Dorf und ein alter Tagelöhner halfen. Das musste täglich sein. Hans war von den Strapazen der letzten Tage sehr erschöpft und wollte sich ein wenig ausruhen.

Am Abend hatte ich mich frisch gemacht und in der Küche ein paar Brote geschmiert, um ihn meinem schlafenden Gast in der Kammer zu bringen, da er ja noch nichts zum Abend gegessen hatte. Obwohl ich plötzlich innerlich so sehr vor Verlangen glühte, bemühte ich mich um fürsorgliche Sachlichkeit, als ich ihn geweckt hatte. Hans saß auf dem Bett und genoss die Leckerbissen. Ich beobachtete ihn still und wie von Sinnen und Verlangen getrieben umarmte ich ihn plötzlich als er fertig war. Er konnte nicht mehr ausweichen und tröstete mich schließlich bis zum Morgen.

Ich musste wieder früh in den Stall, während Hans im Bett blieb. Er war noch ganz erschlagen von meinem nächtlichen Gefühlsausbruch. Was war in mich gefahren?

Ich war mit der Arbeit fertig. Hans hatte sich erholt und war angezogen, als ich herein kam, um mich für den herzzerreißenden Ausrutscher letzte Nacht zu rechtfertigen: ‚Ich war emotional aufgewühlt, weil du als einziger nach all den Jahren überhaupt von meinem Mann so ehrlich berichtet hast. Für mich waren diese Jahre der Ungewissheit ziemlich belastend gewesen. Bedingt durch deine Informationen waren meine Gefühle so sensibilisiert worden, dass ein unbändiges Lustverlangen über mich gekommen war.

Die vergangene Nacht war dann auch ein unkontrollierter, aber ein wunderschöner Befreiungsschlag. Doch es wurde der Beginn einer ungewöhnlichen, tiefen Freundschaft. Hans hatte eigentlich nicht wirklich damit gerechnet, dass er hier auf dem Hof bleiben könnte. Er hatte angenommen, bis er sein Ziel hier erreichte hätte, wäre in der Zwischenzeit der Krieg aus gewesen, und Deutschland hätte kapituliert. Aber er kannte die Realität nicht, denn es nahm kein Ende. Es ging unvermindert weiter und immer mehr Menschen starben. Bei so viel mörderische Unvernunft müsste zum Schluss doch eine logische, einsichtige Vernunft siegen.

Nein, es kamen immer mehr Flüchtlinge, denn der Führer hatte befohlen, die deutschen Ostgebiete vor den sich nähernden russischen Truppen zu räumen. So wurde in Schleswig-Holstein jedes ‚Loch mit Flüchtlingen vollgestopft‘, die hauptsächlich über die Ostsee kamen. 

Hans machte sich auf dem Hof nützlich, wo er nur konnte aber vermied es, sich draußen aufzuhalten und wenn, dann nur mit der Krücke. Zu groß schien ihm das Risiko, einem Denunzianten auf den Leim zu gehen, denn auch noch so kurz vor Kriegsende machten eigenmächtige Strafaktionen von NS-Funktionären und Militärjustiz Jagd auf fahnenflüchtige Soldaten, die dann auch noch wenige Tage vor der Kapitulation hingerichtet wurden. Trotz des allgemeinen Elends stand die große Mehrheit der Bevölkerung auch weiterhin zu ihrem ‚Führer‘.

In der ’Klüterkammer‘ hatte Hans ein Motorrad entdeckt, eine ‚Rixe‘, 98 ccm mit Pedalen wie ein Moped. Da er nicht nach draußen wollte oder konnte, restaurierte er es von Grund auf, denn sobald es möglich wäre wollte er damit zu seinen Eltern nach Westfahlen fahren.

Am 5. Mai 1945 kapitulierte Deutschland. Der ‚Führer’ hatte sich schon am 30. April das Leben genommen. Etliche NS Größen hatten sich mit falschem Namen nach Norden abgesetzt und waren untergetaucht. Als Führer-Stellvertreter aber wollte Admiral Dönitz im Norden noch sein Reich gründen und residierte in der Marineschule Mürwik. Deshalb kam die Kapitulation hier zwei Wochen später. Da erst drohte Clemens keine tödliche Gefahr mehr, und er kroch fast befreit aus seiner Deckung, denn er hatte eine Identität gestohlen und fühlte sich als ehemaliger SS-Angehöriger mit der verräterischen Tätowierung der Blutgruppe unter der Achsel immer noch als überführbar.

Das Sagen hatte nun im Norden das dänische und englische Militär. Als anerkannter Kriegsversehrter mogelte Hans sich auch um die Gefangenschaft herum. 

Als ‚Hans Delfs‘ hatte er mehrere Briefe geschrieben, adressiert an den polnischen Bauern und auch an den Pfarrer dort, bekam aber keine Antwort. An seine Eltern konnte oder wollte er mit seiner neuen Identität auch nicht schreiben. Wie sollte er die Umstände nach so langer Zeit erklären? Wie würden sie auch reagieren? Das müsste er schon persönlich machen.

Nun brauchte er aber erst einmal amtliche Dokumente auf den Namen ‚Hans Delfs‘, der ja auch in der Zwischenzeit ja sechs Zentimeter ‚gewachsen‘ war. Er schaffte den wieder erwachten deutschen Amtsschimmel, der scheinbar genauso wieherte wie ‚in alten Zeiten‘, vielleicht ein kleinwenig leiser. Aber es roch noch so, denn die meisten Akteure hinter den Schreibtischen waren wohl noch immer dieselben, nur dass sie am Jackenrevers kein Abzeichen mehr trugen. Reisen durften die Deutschen nicht, nach Hause ja, aber das war ja nun Hans Delfs Hamburg.

In der Landwirtschaft gab es jetzt viel zu tun. Für kleines Geld war er nun bei Gesche als Tagelöhner tätig, denn die französischen Kriegsgefangenen waren wieder nach Hause gereist und die deutschen jungen Burschen waren ja noch in der Kriegsgefangenschaft, soweit sie überlebt hatten. Hans war froh, einen Job zu haben und nicht hungern zu müssen. Er lernte den Umgang mit den Tieren und das Arbeiten mit den Pferden, denn Traktoren hatten die wenigsten Bauern. Etwas hatte er in Polen ja schon mitbekommen.

Als Hans bei mir am Kriegsende unter gekommen war, hatte er sich schon bald in das kleine Reetdach Häuschen unten am Wasser verliebt. Es gehörte zum Hof und diente zuletzt als Schafstall. Nun stand es schon länger leer und war ziemlich kaputt und herunter gekommen. Fischer hatten es einst als Unterschlupf errichtet.

Ein Refugium wollte er sich schaffen, das so recht seiner neuen, spartanischen Lebens-einstellung entsprach. Ich war mit ihm übereingekommen, dass er es für sich fertig machen könne, denn wegen der vielen Flüchtlinge wurde alles Mögliche zu Wohnräumen umfunktioniert. Zwar hätte ich es gern gesehen, wenn er ganz bei mir geblieben wäre, denn wir beiden waren sehr gleichartig und nutzten unsere heimliche Gemeinschaft.

Soweit es die Zeit auf dem Hof zuließ, werkelte er an der Hütte, wobei er mit seinem kleinen Anhänger hinter dem Motorrad die Baumaterialien transportierte, die er von den zerbombten Häusern aus der Stadt holte. Auch einen niedlichen Herd, der zum Kochen und Heizen dienen sollte.

Die Leute waren erstaunt, was Hans aus dem Stall für ein Kleinod machte, denn rund um, auch auf dem Land, war vieles durch die Kriegszeit vernachlässigt worden, somit stach das schmucke Häuschen schon bald als ländliches Bijou in der spröden Umgebung besonders hervor.

Doch er hatte keine Ruhe und wollte unbedingt zu seinen Eltern nach Hause fahren. Das Motorrad war in Ordnung und die Papiere auch. Gut vorbereitet, mit einem Dreieck-Militärzelt, Proviant und Sprit, denn unterwegs würde er wohl kaum etwas bekommen, knatterte Hans davon. Ein paar Reichsmark Taschengeld und Kleinigkeiten zum Tauschen steckte er sich auch noch ein.

Als er durch die Städte fuhr, war er entsetzt über den Umfang der Zerstörung, den die britischen und amerikanischen Bomben bis wenige Wochen und Stunden vor der sicheren Kapitulation angerichtet hatten.

Dann erreichte er die Fabrik seines Vaters. Es war ein großes Trümmerfeld. Nun vermutete er, dass sein Elternhaus ein paar Kilometer weiter ebenfalls in Schutt und Asche lag. Aber nein, die Villa in dem großen, gepflegten Garten wirkte fast ein bisschen unwirklich nach den Zerstörungen in der Umgebung zuvor. Nur am Mast flatterte nun der Union Jack. Die Engländer hatten das Haus konfisziert. Hans fragte den Wachsoldaten am Tor auf Deutsch und Englisch, wo denn die Leute seien, die da gewohnt hätten, aber der sagte barsch jedes Mal: ‚No – go on! ‘

Auf der Straße liefen Frauen mit großen Taschen, Kopftüchern, in abgetragenen Mänteln oder Jacken. Die waren sicherlich Flüchtlinge oder Ausgebombte und würden auch keine Auskunft geben können, wo die Familie von Bruninghausen geblieben wäre. Doch der große Junge, der mit dem Handwagen zwei Säcke transportierte, der war wohl von hier. Und als Hans fragte, meinte der, dass der Vater und sein Sohn im Gefängnis seien, die Mutter und die Tochter mit ihrem Jungen irgendwo anders wohnten. Wo wisse er nicht. 

Die Tochter? Und der Junge? Christian? Ob Anne denn auch schon mit den Flüchtlingen aus dem Osten gekommen war? Vater und Bruder waren wohl im Gefängnis, weil die Fabrik Rüstungsgüter produziert hatte. Es ließ Hans einfach keine Ruhe und er musste ständig an seine Lieben denken, zumal er auch mit den Polen keinen Kontakt bekam. Er fühlte sich so allein, so abgehängt und fuhr zurück.

Unzufrieden mit seinen Informationen wollte er nun auch keinen Fehler machen und es im nächsten Jahr noch einmal versuchen.

So klappte es dann im übernächsten Jahr: In der elterlichen Fabrik war wieder Bewegung und es wurde dort wohl auch irgendetwas produziert. Der Schutt war schon zum größten Teil weggeräumt. Ein einarmiger Pförtner wachte am Tor. Hans sprach ihn an und sagte, dass er hier auch vor dem Krieg gearbeitet hätte. Und wie es denn heute hier so liefe.

Die alten Maschinen hätten die Engländer mitgenommen, um damit ihre Industrie zu puschen. Hier sollten jetzt neue, modernere und effektivere Anlagen installiert werden, die einen wesentlichen Produktionsvorteil gegenüber den alten bringen würden.

Der Pförtner antworte bereitwillig und redselig: Der alte Chef sei zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ob er sie absitzen müsse? - Wahrscheinlich nicht. Seine Frau käme ab und zu auch mal hier zur Fabrik. Von den beiden Söhnen wäre der jüngere im Krieg geblieben, der ältere und seine Frau leiteten jetzt das Ganze und den Wiederaufbau. Die machten das gut. Wenn sie hier vorbei kämen, redeten sie auch mal mit einem, besonders die junge Frau, wenn sie ihren kleinen Sohn mitbrachte. Ein feiner kleiner Kerl wie die Mutter, lächelte der Einarmige. Aber sonst? Gefragt hat er Hans nichts, und er hat auch weiter nichts erzählt.

Hans fuhr weiter zur elterlichen Villa. Die britischen Besatzer waren ausgezogen. Drinnen und draußen wurde renoviert.

Ja, da waren sie! Seine Mutter, Anne und auch Christian im Garten und sprachen mit den Handwerkern. Ja, das waren sie! Wie gern würde er da einfach so zu ihnen laufen, „Hallo, da bin ich“, und seine Lieben umarmen und drücken.

War nun Claus, Clemens Bruder, Christians Papa? Und hatte Anne ihn geheiratet? Er war doch schwul. Clemens hatte Angst, dass er jetzt ein Chaos verursachen würde, wenn er sich zu erkennen gäbe - als Hans Delfs? Und könnte er da nicht zu schnell als Kriegsverbrecher Clemens entlarvt werden? Ja, und könnten Anne und er überhaupt ihr harmonisches Liebesleben wie zuletzt in polnischer Unfreiheit so weiterführen? Diese entbehrungsreichen Momente hatte er schon als die glücklichste Zeit des Lebens abgespeichert.

Seinen Mut, den er einst in Polen zur Flucht aus dem Lager aufgebracht hatte, war wohl damals mehr durch eine aufgestaute Panik entstanden und zu erklären gewesen – den brachte er nun nicht auf.

Schon am selben Tag machte Hans sich wieder auf den Weg gen Norden. Traurig war er nicht, vielleicht aber ein wenig wehmütig. Er war beruhigt und freute sich, dass Anne und Christian in Sicherheit waren. Doch sein bescheidenes Leben bei dem armen, kleinen Bauern in Polen hatte ihn geprägt. Er war wenigstens dankbar, dass er und seine Familie alles heil überlebt hatten und offensichtlich gesund waren.

Er verspürte auch keine Ambitionen in seinem Dasein oder in der Wirtschaft noch ein großes Rad drehen zu wollen. Hans fühlte sich irgendwie von allen, auch familiären Zwängen befreit. Auf dem Hof half er kostenlos aus oder war quasi nur als Tagelöhner tätig und sprang ein, wenn Not am Mann war. Auch auf der Werft half er ab und zu aus, wenn es um etwas technisch Kniffliges ging.

Dem Bootsbaumeister der kleinen Werft gefiel es. Hans verstand sich ganz gut mit ihm, nicht nur wegen seines handwerklichen Geschicks und seines technischen Knowhows, sondern auch menschlich. Er bot ihm auf der Werft einen Job an. Hans sagte zu.

Die Lebensmittel waren knapp und der Schwarzmarkt blühte, besonders in den städtischen Regionen. Die Menschen tauschten Schmuck und wertvollste Dinge gegen ein paar Krümel Brot. Der Tauschhandel hatte Hochkonjunktur. Lebensmittel und Zigaretten wurden zu Ersatzwährungen. Die Reichsmark war fast nichts mehr wert.

Ein altes Fischerboot lag schon über fünf Jahre an der Werft. Die Reparatur lohte sich nicht mehr und auch das Abwracken wäre teuer gewesen. Gegen ein altes Damenfahrrad tauschte Hans es mit der Witwe des Fischers ein. Hans wollte wieder ein Segelboot daraus machen.

Wenn er auf der Werft oder dem Hof nicht gebraucht wurde, bastelte er an seinem Boot oder an seinem Haus. Er schacherte auf dem Schwarzmarkt, wobei ihm sein Motorrad-gespann für Transporte zugutekam. So machte er bis zur Währungsreform erfolgreich weiter.

Obwohl er ursprünglich doch nur so viel Kasse machen wollte, dass er damit sein Boot renovieren konnte, so füllte sich sein Konto mit der neuen D-Dark immer weiter. Der Schiffsmotor wurde überholt, dass der alte Diesel wieder wie eine Nähmaschine lief – natürlich bisschen lauter. Es dauerte eine ganze Zeit bis der betagte Kahn mit Mast, schwarzem Rumpf und braunen Segeln, innen und außen wie aus dem Ei gepellt, zu einem gemütlichen Prachtstück geworden war. Er taufte es auf den Namen ‚Stackel‘, was im Norden für ‚armer Schlucker‘ steht.

In seinem Lebensstil blieb Hans bescheiden auf dem Teppich in seiner urigen Fischerhütte und er blieb auch bei mir. Die die Landwirtschaft hatte mein Neffe inzwischen übernommen und ich war ins Altenteiler Haus gezogen.

Hans war viel mit seinem Boot zum Fischen unterwegs, ab und zu gemeinsam mit mir. Ich blieb aber auch gerne zu Hause. Wir waren ein harmonisches Paar und verstanden uns aller bestens aber lebten nicht zusammen unter einem Dach, aber postalisch war er bei mir gemeldet. Und das war auch gut so, denn er hatte gelegentlich Depressionen und weinte, wenn seine Vergangenheit ihn in Gedanken einholte. Dann wollte er nur allein sein. Aber erzürnen konnte man sich mit ihm nicht.

Als Glasnost und Perestroika die Politik im Osten aufweichte, bekam Hans Bedenken, dass man nun in den alten Kriegsarchiven weiter wühlen würde und auf der Suche nach den ehemaligegen Akteuren seine Identität aufdecken könnte. Wenn mein Mann während seiner SS-Militärzeit in einem Vernichtungslager tätig gewesen war, müsste Hans Delfs, sein Kamerad, doch ebenfalls dort gewesen sein. So könnte seine falsche Identität auffliegen.

Er hatte in Medienberichten verfolgt, wie raffiniert ehemalige Kriegsverbrecher nach langer Zeit aufgespürt worden waren. Die SS-Tätowierung unter Achsel könnte ihn stets überführen, ihn vor Gericht zerren und dann mit Zeugen belegen, dass er dazu gehört und gemordet hätte. Ich glaubte aber nicht daran, aber konnte es ihm auch nicht ausreden. 

 Doch als würde Hans mit seinen Bedenken Recht gehabt haben: Da erschien bei mir nun ein Mann stellte sich vor, den Namen weiß ich nicht mehr, und fragte nach Hans Delfs.

Er sei ein ehemaliger Schulfreund. Da seine Familie in Hamburg ja ausgebombt und ums Leben gekommen sei, habe er sich an den Suchdienst des RK gewandt und seine Adresse erfahren. Hans sei auf Reisen, sagte ich spontan. Der Mann gab mir seine Karte. Hans würde sich melden, wenn er denn zurückkäme. Er glaubte an einen ‚Kopfjäger‘, oder aber einer, der den wirklichen Hans von Angesicht kannte und zu minderst seine falsche Identität erkennen würde. So   beschloss er, wieder unterzutauchen.

Hans hatte sich mit einer Flucht oder Reise in die Karibik schon länger intensiv befasst, da es dort ja auch europäische EU-Dependancen gab, wo er sich über einen längeren Zeitraum aufhalten konnte. Die ‚Stackel‘ und er waren auch für die Überfahrt gut ausgerüstet.

Er hatte auch schon lange seine Vergangenheit in einen Pappkarton gepackt: Alle seine Erinnerungen, Fotos und Notizen, unvollständige Tagebücher, Skizzen und Gedanken über Menschen aus seinem Leben. Mit einem kurzen Anschreiben: ‚Wenn Ihr die Nachricht erhaltet, werde ich nicht mehr da sein, weil ich Schuld auf mich geladen habe und nicht bleiben kann. Ich liebe Euch alle. ‘ Er adressierte er es an die Familie von Bruninghausen mit meinem Absender.

Hans hatte mir eine Generalvollmacht für die Bank und alles Mögliche gegeben, denn er werde auf eine längere Reise gehen. ‚Ich melde mich und wenn du im nächsten halben Jahr nichts von mir hörst, schicke doch bitte das Paket ab.‘ Ich musste ihm auch versprechen, nichts weiter zu erzählen, falls ich wieder mit ihm Kontakt hätte. Ich versprach es.

Ein paar Monate später: Wie vom Blitz getroffen hatten die von Brüninghausens das Lebenszeichen von Hans aufgenommen. Anne war außer sich und wäre am liebsten sofort zu mir gefahren. Christian aber behielt aber einen kühlen Kopf. Sie sollten sich doch erst einmal mit seinem Nachlass im Karton beschäftigen, um sich ein Bild zu machen.

Wohlwissend, dass sie Clemens alias Hans nicht mehr antreffen würden erschienen Anne und Christian aber ein paar Tage später bei mir. Sie wollten die Frau kennen lernen, bei der Hans so lange gelebt hatte.

Zwischen mir und den von Brüninghausens entwickelte sich in der Folgezeit eine harmonische Freundschaft. Ich freute mich jedes Mal, wenn Anne und auch Christian jetzt häufiger kamen und dann in der Fischerhütte schliefen. Ich verriet aber nichts, obwohl Hans mir inzwischen schon mitgeteilt hatte, dass er in der Karibik sei. Ich schrieb ihm zu bestimmten Zeiten postlagernd an vereinbarte Orte. So vorsichtig war er.  

Das war vor fünf Jahren. Seit dem kommen Anne und Christian jeden Sommer für ein paar Tage oder Wochen in die Hütte und fahren mit einem Fischerboot und einen Blumengruß aufs Meer. Nun hat sich Christian ja selbst ein Schiff gekauft und einen Freund, dich Bernd gefunden. Du willst dich ja auch künftig um das Schiff kümmern und dazu gehörte dann auch jedes Mal eine Tasse Kaffee bei mir“, lachte Gesche - und Bernd: „ Das geht los. Ich besorge den Kuchen.“

 

Dass Anne nun auch häufiger für ein paar Tage kam, um sich mit Bernd zutreffen, passte Gesche nicht so ganz. Obwohl zwischen ihr und Bernd nur eine angenehme Freundschaft bestand, war sie scheinbar ein wenig eifersüchtig, oder es war verletzte Eitelkeit.

Deshalb verriet Gesche Bernd im ‚Vertrauen‘, dass Hans sich in der Karibik an verschiedenen Orten aufhielt. Wo wisse sie nicht, da er postlagernd verschiedene Orte wählte. Logisch, dass Anne es nun von Bernd erfuhr.

In der Karibik

Schon Ende November flogen Christian und Hans nach St. Maarten. Sie hatten in Marigot an der großen Lagune ein Boot gechartert und verschiedene Fotos der ‚Stackel‘ und auch von Hans dabei. Da die Boote dort ja fast alles weiße Yachten waren, müsste schon ein schwarzer, braun getakelter Kutter auffallen.

Die auf der Charterbasis sahen sich die Bilder vom Kutter und Skipper an, schüttelten die Köpfe und sagten, wenn einer das wissen könnte, dann wäre das der der Brückenwärter an der Klappbrücke, denn da müssten alle durch, weil viele hier in der Lagune während der der Sommermonate Schutz vor den Starkwinden suchten. Der kannte alle.

Sie hatten Glück. Ja, der kannte das Schiff und auch den Kapitän. Sie hätten manche Flasche Bier miteinander leer gemacht. Ein netter Geselle, der Deutsche. Vor zwei Wochen sei er raus. Wohin? Hier oder da? Er lächelte, zeigte dabei nach Norden und nach Süden und zuckte mit den Schultern. Euphorisch, dass sie schon einmal ein Lebenszeichen bekommen hatten, segelten sie nach links, also nach Süden. Das war auch ihr ursprünglicher Plan und passte auch besser mit dem Wind. Sie hätten wohl ausklarieren müssen, fiel ihnen ein. Ob das jemanden auffiel bei so vielen Schiffen?

Schon bald merkten sie, dass ihre Aktion recht blauäugig geplant war, zumal sie weiter niemanden getroffen hatten, der sich an den Kutter erinnern konnte. Sie ankerten in den Buchten und setzten zum Dinner in die kleinen Beachrestaurants über. Da Bernd und Christian beruflich ja mit der englischen und französischen Sprache vertraut waren, kamen sie bei ihrer Recherche mit den geselligen Gästen schnell in Kontakt. Schon nach ein paar gönnerhaften Drinks wurden sie Freunde und nach weiteren Drinks, hatten sie die Stackel tatsächlich schon gesehen oder sagten wenigstens. Diese karibische Leichtigkeit hatte sie bald gepackt, aber sie wussten sehr wohl, dass es galt, die Nadel im Heuhaufen zu finden.

 

Zwei Tage vor dem Auschecken näherten sie sich wieder St. Maarten von Osten her und ankerten in einer Bucht vor einem Restaurant. Als sie nach dem Essen mit dem Dingi zurückkamen, entdeckten sie mit ihrer Handlampe ein dunkles Schiff weiter hinten und steuerten spontan darauf zu. Es war die ‚Stackel‘. Aus der offenen Luke klang klassische Klaviermusik und das fade Licht beleuchtete das Deck. Christian hielt sich am Süll fest. Es roch nach gebratenem Fisch. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Aufgeregt und erwartungsvoll klopfte er an die Bordwand.

Da stand sein Vater mit grauem Haar und grauem Vollbart vor ihm. Bernd hielt die Lampe so, dass beide sich ansehen konnten. „Papa, ich bin es, Christian, dein Sohn!“ Regungslos starrte der Alte Christian an, wobei ihm schon gleich die Tränen kamen und seine Lippen zitterten, aber er sagte nichts. „Ich bin es, der kleine Pole, Annes Sohn – Papa“, versuchte Cristian ihn nach einer Weile aus der Reserve zu locken. „Sag doch was!“ Der aber schwieg, weinte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Doch dann strich der Alte Christian ganz behutsam über den Kopf. „Ja, Christian - - ja, ich weiß doch Christian, “ kam es ihm ruhig und leise über die Lippen. Er drehte sich um, schloss die Luke und machte das Licht aus.

Bernd legte sich schlafen. Christian konnte nicht, setzte sich mit einer Flasche Wein in die Plicht und stierte unentwegt in die Dunkelheit, wo die Stackel lag, bis ein Tropenschauer ihn in die Koje trieb.

In der frühen Dämmerung wollte er erneut rüberfahren, aber da war die ‚Stackel‘ nicht mehr da.

Es wurde still um Hans. Erst als Gesche mit einundneunzig Jahren gestorben war und ihr Neffe den Nachlass ordnete, war da auch ein Ordner ‚HANS‘. Gesche hatte also die ganzen Jahre alle offiziellen Angelegenheiten, Rente und Bank, während seiner Abwesenheit in Deutschland geregelt und ihn über alles hier ausführlich informiert.

Neben weiterer Korrespondenz waren da auch die alten Reiseunterlagen, aus den hervorging, dass sie nicht jedes Jahr wie angeblich vier Monate in einer Finca auf Gran Canaria bei Freunden überwintert hatte, sondern in der Karibik. Auch als Christian seinen Vater einst aufgespürt hatte, war sie ebenfalls dort bei ihm an Bord.

In ihrem Fotoalbum ‚Karibische Erinnerungen‘ sitzt Hans in einem großen Sessel auf der Veranda des schmucken karibischen Häuschens inmitten seiner braunen Familie.

Schon vor zwei Jahren hatte Gesche den ‚Lettre Recommandée‘ eines Notars von der kleinen Insel ‚Iles Des Saintes‘ bekommen. Gesche hat ihn geöffnet und liegen gelassen. Darin waren die Sterbeurkunde und das Testament mit einem sauber geschriebenen Brief seiner Familie in französischer Sprache:

…Hans hat euch immer alle lieb gehabt und bittet euch für sein Verhalten der letzten Jahre um Verzeihung … seine Lebensbeichte hat in unserer kleinen Kirche abgelegt und Frieden gefunden … er ist friedlich in unserer Familie eingeschlafen … und ruht jetzt auf unserem sonnigen Friedhof.